Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
weiter ein, und so blieb auch das Gefühl, das gesamte Finanzsystem könne jede Minute zusammenbrechen. Die Vorahnung drohenden Unheils hing schwer über dem Handelssaal, wo nur sehr sporadisch gehandelt wurde. Man muss Lloyd Blankfein und Gary Cohn zugutehalten, dass sie ihr Bestes taten, um die Moral der Truppe in dieser Krise zu stärken. Sie waren oft im Handelssaal präsent und zeigten echte Führungsqualitäten. Doch unsere unmittelbaren Vorgesetzten, die Partner, gaben ein ganz anderes Bild ab. Viele schienen sich regelrecht in ihren Bunkern verbarrikadiert zu haben.
Ich kann mich an einen Zeitraum von mehreren Wochen erinnern, in dem einer meiner Chefs, Paul Conti – ein Mann, der zumindest seinem Titel nach eine Führungskraft war –, keine Kunden anzurufen schien, nicht mit seinen Angestellten redete und ganz offensichtlich nichts unternahm, um seine Leute aufzumuntern. Das Einzige, was ich von ihm im Verlauf der Krise mitbekam, war, dass er sich einer dieser einwöchigen Saft-Fastenkuren unterzog, die im höheren Management bei Goldman in diesem Sommer und Herbst in Mode gekommen waren.
Die obersten Chefs machten das, um abzunehmen. Conti dagegen war Gewichtheber und in Topform. Er schien dies als einen Akt der Selbstdisziplinierung zu verstehen. Ich erinnere mich, dass ich direkt hinter ihm saß, als er sich zu der Fastenkur entschloss. Es war Sonntagabend, der 14. September, und wir waren alle im Büro und warteten, ob Lehman unterging. Ich dachte: «Was für ein knallharter Bursche muss man sein, um sich während der größten Finanzkrise seit der Großen Depression auch noch eine Fastenkur anzutun?»
Eine ganze Woche lang – während Lehman, Merrill und AIG – bekam Conti täglich sechs Gemüse-und Fruchtsäfte von Blue-PrintCleanse – «100 % biologisch» – direkt ins Büro geliefert, und jeden Tag trank er brav alle sechs Flaschen. Sieben Tage lang nahm er keine feste Nahrung zu sich. Das war seiner Stimmung nicht gerade zuträglich.
Unser asketischer Chef war in Brooklyn geboren worden und aufgewachsen. Im College hatte er Football gespielt. Er war ein widersprüchlicher Charakter, einerseits sehr aktiv, dann wieder eher passiv. Unglücklicherweise war es während der Krise die letztere Eigenschaft, die in den Vordergrund trat. Im Rückblick kann ich verstehen, dass er Angst hatte, aber glaubte er denn, dass die einzige Verantwortung eines Partners darin bestand, in guten Zeiten fette Boni einzustreichen? Im gesamten Team wurde wochenlang darüber geredet, wie enttäuschend die Partner sich in den dunkelsten Tagen des Jahres 2008 verhielten. Jetzt war die Zeit, um vorzutreten und allen zu zeigen, wofür sie das dicke Geld verdienten. Zu zeigen, warum sie in Führungspositionen berufen worden waren.
Unser Asket saß stattdessen Tag für Tag wie erstarrt vor seinem Computer, verfolgte ängstlich die Entwicklung der Goldman-Sachs-Aktie und rechnete nach, wie sich das auf sein Nettoeinkommen auswirkte. Seine Passivität war besonders demoralisierend für die jüngeren Analysten, die gerade einmal drei Monaten bei Goldman und wirklich verunsichert waren. Einmal kam ein Partner aus einem anderen Stockwerk zu uns und tat sein Bestes, uns mit Worten ein wenig aufzumuntern.
Er lächelte und sagte: «Kommt schon, Leute. Ich weiß, die Situation ist schlimm. Aber die Firma wird jetzt erst recht zeigen, dass sie solchen Situationen gewachsen ist. Was wir jetzt nicht tun dürfen, ist, in die Defensive zu gehen, sondern wir müssen uns vor unsere Kunden stellen.» Seine Worte hatten eine geradezu magische Wirkung. Das war es, was wir brauchten.
Dieser kleine Auftritt des Partners war ein so außergewöhnliches Ereignis, dass die Leute noch Tage später darüber sprachen.
Das Führungsverhalten der Partner auf unserer Etage enttäuschte mich schwer. Ich hatte zur Riege der Partner aufgeschaut, hatte mir ausgemalt, selbst eines Tages dazuzugehören. Ich konnte nur hoffen, dass ich mich anders verhalten hätte, wenn ich in diesem schweren Herbst und Winter einer von ihnen gewesen wäre.
Da der Handel nun nur noch im Schneckentempo vonstattenging, begann Goldman eine weitere seiner regelmäßig wiederkehrenden Entlassungsrunden. Alle paar Wochen wurden mehr Leute entlassen. In einer Woche ging das Gerücht im Handelssaal um, dass man aus jeder Gruppe eine Person freisetzen würde. Mr. Fruchtsaft entschied sich für einen neuen Associate, der erst kürzlich zu unserer Gruppe gestoßen war. Der
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