Die ungewisse Reise nach Samarkand: Roman (German Edition)
streckte den Arm aus, und sofort sprang der Bewegungsmelder an.
Eine tote
Taube! Zerfleddert, darunter blankes Gerippe und viel getrocknetes Blut. Schnell
knallte sie die Tür wieder zu. Sie zitterte.
Sie ging
ins Bad, richtete sich, zog warme Klamotten an und griff zu Einmal-Handschuhen und
einem Packen Plastiktüten. Als sie sich über das tote Vieh beugte, stieg ihr ein
mörderischer Geruch in die Nase. Das war keine frische Leiche. Mit angehaltenem
Atem griff sie nach dem Kadaver, versenkte ihn in ihrem Tütenarrangement und trug
ihn zum Müllcontainer. Ein Glück, dass heute Abfuhrtag war. Aber das war auch das
einzige Glück. Im Fußabstreifer hatten sich blutverklebte Federn verhakt, die sich
nicht entfernen ließen. Die Paula auch gar nicht entfernen wollte, denn der Gestank
hatte sich auch darin festgesetzt. Also noch mal zum Container. Ihr saß jetzt dieser
Verwesungsgeruch in allen Schleimhäuten, und der ganze Vorflur schrie nach Sagrotan.
Sie sprühte und sprühte, innen und außen und an der Tür entlang. Am liebsten hätte
sie es sich auch in Mund und Nase gesprüht.
»Du, das
war bestimmt diese Katze aus der Nachbarschaft, die hat doch schon öfter Vögel gejagt.
Und die streunt doch ständig um dein Haus herum«, versuchte Jule sie später am Telefon
zu beruhigen.
»Und legt
die Taube exakt auf meiner Fußmatte ab? Du spinnst doch. Da will mir jemand Böses,
ganz bestimmt.«
»Aber warum
denn?«
»Was weiß
ich.«
»Na, vielleicht
waren es ja Kinder oder Jugendliche – denen fallen manchmal die absurdesten Dinge
ein.«
»Also, unsere
Streiche damals waren harmloser.«
»Da hast
du allerdings recht.«
Was, wenn
es der Zeitungsausträger war? Mit dem war Paula verschiedentlich aneinandergeraten:
wegen eines in den Weg ragenden Busches, der beschnitten werden musste, wobei der
Busch gar nicht zu ihrem Haus gehörte, wegen fehlender Beleuchtung, weil sie die
Zeitumstellung vergessen hatte, was doch mal passieren konnte, und gleich darauf
hatte sie ja den Bewegungsmelder angeschafft, wegen eines Sturzes – blöde, aber
morgens um vier bestand wirklich noch keine Schneeräumpflicht. Wochenlang hatte
sich der Kerl gerächt, indem er zu nachtschlafender Stunde lautstark sein ›Hallihallo,
hier kommt der Zeitungsmann‹ plärrte. Aber in letzter Zeit war alles friedlich gewesen.
Allerdings hatte sie bei all den Aufregungen der vergangenen Tage versäumt, ihm
einen Umschlag mit Weihnachtsgeld an die Tür zu pinnen.
Sollte sie
sich womöglich den Wecker stellen? Mitten in der Nacht? Aber wahrscheinlich war
alles doch nur ein dummer Scherz.
»Hallo, Paula, wie geht’s?«
»Nanu, Becca.
Ewig nichts von dir gehört. Hab schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass du dich
meldest.«
»Wieso?«
»Na ja.«
»Sag mal,
was kursieren denn da für Sachen über dich?«
»Ach, du
weißt es auch schon? Ist das nicht ein starkes Stück?«
»Allerdings,
ich kann es kaum glauben.«
»Das Schlimmste
war ja, wie dieses Vieh stank. Ich habe den Geruch kaum mehr aus der Nase bekommen.«
»Was denn
für ein Vieh?«
»Na, die
tote Taube natürlich.«
»Tote Taube?
Nie davon gehört.«
»Ja, weshalb
rufst du denn dann an?«
»Oh, du
weißt es noch gar nicht?«
»Menschenskind,
Becca, jetzt mach’s nicht so spannend. Was ist los?«
»Na, was
sie so rumerzählen … über dich. Dass du diese Schauspielerin, diese Nikki oder wie
sie heißt, ich kenne sie ja nicht … also, dass du die vergiften wolltest.«
»Was?« Paula
blieb jetzt der Atem weg. » Wer sagt das?«
»Also, ich
hab’s von Markus und der von ihr selbst. Sie spielt ja anscheinend in seinem Film
mit. Soweit ich verstanden habe, glaubt sie es zwar auch nicht, aber … Nun
ja, Simon steckt wohl dahinter. Der hat ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Oder hat’s
zumindest versucht.«
»Dieser
Schuft! Also, der spinnt doch jetzt total.«
»Ich wollte
es dir nur gesagt haben. Ich denke, du solltest Bescheid wissen. Bei solchen Freunden
brauchst du keine Feinde mehr.«
Kaum hatte
sie mit Becca Schluss gemacht, griff sie wieder zum Hörer.
»Dass der
nicht mehr richtig tickt, das war mir ja schon nach dem Unfall klar, als er mit
diesem Schuld-und-Sühne-Zeug ankam. Du erinnerst dich, Jule?«
»Ja, du
hast davon erzählt.«
»Aber das
jetzt, das schlägt dem Fass den Boden aus. Der hat doch nicht mehr alle Tassen im
Schrank. Der sollte mal zum Psychiater.«
»Nun ja,
eigenartig ist das schon.«
»Was heißt
eigenartig, das ist eine bodenlose
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