Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
Vom Netzwerk:
verrückt? Nein, ich bin wirklich eine dumme Gans.«
    Alice sank müde in den Sessel unter der Stehlampe. Das warme Licht erfüllte den Raum. Ich versuchte zu begreifen, was sie soeben gesagt hatte. Wusste ich, was Liebe war? Offenbar bestand daran kein Zweifel. Wer Liebe in sich trägt, weiß auch, was Liebe ist, so musste es sein.
    »Jetzt bist du der Mann in meinem Leben, kleiner Bär. Du und ich, wir schaffen das schon irgendwie, nicht wahr?«
    Wenn du meinst. Ich bin jedenfalls immer für dich da. Und eines lass dir gesagt sein, sollte noch einmal jemand so taktlos wie Elizabeth sein, dann kriegt er es mit mir zu tun. Ich finde –
    Noch während ich sprach, drehte Alice auch im Salon das Licht aus, sagte Gute Nacht und ging einfach in die Küche. Sie hatte meine Antwort nicht gehört. Sie konnte sie nicht hören, denn offenkundig konnte ich nicht sprechen. Welch niederschmetternde Erkenntnis am Ende dieses Tages.
    Die erste Nacht meines Lebens begann, und ich blieb zurück mit all meinen Eindrücken, Gedanken und vor allem einer unendlichen Anzahl Fragen. Ich war erschöpft und bedrückt. Mein noch so junges Bärenhirn suchte zu erkennen, was dieses Leben mit mir vorhatte. Ich versuchte, das Ausmaß meiner persönlichen Tragödie zu begreifen: Welchen Sinn hat es, auf der Welt zu sein, wenn man sich nicht bewegen und nicht sprechen kann, gleichzeitig aber vier quicklebendigen Sinnen ausgeliefert ist? Ja. Das muss man erst einmal verdauen. Meine Gedanken drohten sich zu überschlagen.
    Als Nächstes überschlug ich mich jedoch selbst, und zwar, als ich in den frühen Morgenstunden meines zweiten Lebenstages unsanft von der Fensterbank gestoßen wurde. Ich schlug hart mit dem Kopf auf den Holzdielen auf, landete auf dem Rücken und starrte gen Himmel. Ich sah noch einen blitzschnellen Schatten über mich hinwegfegen, und als Nächstes spürte ich, wie mich ein Schlag auf die Nase traf. Ein weiterer Schlag hinter die Ohren, und ich drehte mich willenlos auf den Bauch. Jetzt konnte ich nichts mehr sehen. Ich lauschte, hörte jedoch nichts. Totenstille, nur das Geräusch des Regens gegen die Fensterscheiben.
    Was war das gewesen? Was war mir widerfahren? Es war so schnell gegangen, dass ich erst im Fallen wieder richtig zu Bewusstsein gekommen war. Ängstlich und mit dem unangenehmen Gefühl, dem Feind im Rücken vollkommen ausgeliefert zu sein, lag ich da und hoffte auf Alices baldiges Erscheinen. Sie würde doch wohl wiederkommen. Sie wohnte schließlich in diesem Haus, oder nicht? Die Zeit verging quälend langsam, während ich einen nächsten Überfall aus dem Nichts befürchtete. Doch nichts geschah. Endlich, viel zu spät, die erlösende Stimme von Alice.
    »Henry, was machst du denn da auf dem Boden? Warst du das, Tiger? Schäm dich, das gehört sich aber wirklich nicht!«
    Tiger? Wer war Tiger? Ich hatte bislang nicht bemerkt, dass außer Alice und mir noch jemand da war. Alices hob mich auf und setzte mich wieder zurück aufs Fenstersims. Da sah ich ihn. Tiger. Er saß selbstzufrieden auf unserem (also Alice und meinem) Sessel und schaute aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen herüber, als könnte er kein Wässerchen trüben. Der gefährliche gestreifte Tiger. Samtpfoten mit versteckten Krallen sind wirklich nichts für gradlinige Leute wie mich. Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden auf der Welt und hatte bereits einen erklärten Feind. Auch wenn es nur ein Kater war.
    Man kann sich den Start ins Leben glorreicher vorstellen, oder nicht? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das Fazit meines ersten Tages:
    Ich konnte nicht sprechen.
    Ich konnte mich nicht bewegen.
    Ich musste zuhören.
    Ich musste zusehen.
    Ich konnte mich nicht wehren (gegen Angriffe von Katzen).
    Ich hatte eine Feindin (oder vielleicht sogar zwei, wenn man Elizabeth dazuzählen wollte, doch sie erschien mir nur dumm und nicht gefährlich.)
    Ich hatte einen Namen mit einem »N.« zu viel.
    Allerdings war ich auch damals schon ganz ich selbst und gab mich nicht mit dieser melancholischen Erkenntnis zufrieden. Gut, ich brauchte ein oder zwei Stunden, um aus meinem Selbstmitleid wieder aufzutauchen. Aber mir wurde bald klar, dass alles immer zwei Seiten hat. Ich hatte vielleicht einen schlechten Start gehabt, mein Rüstzeug jedoch war, genauer betrachtet, nicht so schlecht:
    Ich konnte sehen.
    Ich konnte hören.
    Ich konnte denken (besser als Tiger jedenfalls).
    Ich hatte einen (ansonsten ganz passablen) Namen.
    Ich hatte eine

Weitere Kostenlose Bücher