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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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jeder von sich behaupten.
    Alice und ich waren also durchaus nicht immer einer Meinung, und das war sicher gut so, denn ich lernte das, was einen gesunden Bärenverstand ausmacht: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und einen kritischen Blick – auch wenn es nur für mich im Stillen stattfand, formte es mich doch.
    Wenn Alice jedoch von William sprach – und das tat sie sehr häufig –, war alles anders. Ihr Blick dunkel, ihre Stimme leise und weich, und ein leichter Schimmer von Rot legte sich auf ihre Wangen.
    Wenn es um William ging, ging es um die Liebe, und ich hatte schnell begriffen, dass die Liebe der Motor war, der die Menschen in Bewegung hielt. Alles andere wurde demgegenüber unbedeutend und klein. Mir wurde immer klarer, welch kostbares Gut ich in mir trug, und ich konnte gar nicht genug darüber erfahren.
    »Weißt du, Henry, wenn Will mich ansah, dann war ich so glücklich«, erzählte sie einmal, während sie mit einem Staublappen über die Fensterbank wischte. »Wir brauchten kein Geld. Wir wären schon über die Runden gekommen. Ich weiß, von Luft und Liebe kann man nicht leben, aber manchmal kam es mir fast so vor.«
    Beschwingt putzte sie weiter und ignorierte die Streifen, die der Lappen hinterlassen hatte.
    »Ich habe von Will geträumt«, sagte sie an einem anderen Morgen. »Es war, als wäre er wirklich da. Er saß neben meinem Bett und streichelte mir die Hand, wie er es immer tat, bevor er zur Arbeit ging. ›Guten Morgen, mein Herz‹, hat er gesagt. ›Zeit, den neuen Tag zu begrüßen.‹ Wie im Himmel habe ich mich gefühlt, weißt du, Henry, wie im Himmel, so leicht und so glücklich und so voll Wärme. So fühlt sich Liebe an.«
    Sie saß mit der Teetasse auf den Knien in unserem Sessel. Ich hockte auf meinem angestammten Platz auf der Fensterbank und hörte ihr zu.
    »Ich wünschte, ich wäre nicht wieder aufgewacht«, setzte sie traurig hinzu. »Dann wäre ich einfach bei ihm geblieben.«
    Solche Momente gab es immer wieder. Und ich war froh, dass sie dann immer irgendwann die Tasse zur Seite stellte und mich zu sich nahm. Sie drückte ihre Nase in meinen Nacken und atmete warm und ruhig, bis die Traurigkeit verflogen und ihre Tränen in meinem Fell verschwunden waren.
    An anderen Tagen war sie richtig wütend. Anfangs bekam ich Angst, wenn sie heftig wurde und lospolterte.
    »Die lügen doch alle. Die Politiker, die Beamten, alle. Will ist nicht tot. Es gibt ja nicht mal eine Leiche. Woher wollen sie es denn so genau wissen? Ich glaube das einfach nicht. Sie lügen«, schimpfte sie, und es fehlte nicht viel und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft.
    »Ist doch so«, sagte sie dann schon leiser, »nur du, du lügst nicht, Henry. Nicht wahr?« Und sie wandte sich wieder der Hausarbeit zu.
    Alice war keine dumme Gans, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Sie war einfach eine junge Frau, die ihren liebsten Menschen verloren hatte und Trost suchte. Wer hätte dafür kein Verständnis gehabt? Ich war jedenfalls bereit, alles dafür zu tun, damit sie sich nicht einsam fühlte.
    Ohne unbescheiden wirken zu wollen, denke ich doch, dass ich meinen Job recht gut gemacht habe. Manchmal frage ich mich, was sie wohl später ohne mich gemacht hat, wie sie zurechtgekommen ist mit dem Alleinsein. Es muss schwer für sie gewesen sein, viel schwerer als für mich. Doch letztendlich war es William, der uns auseinanderriss. William, der für sie noch immer das Wichtigste auf der Welt war. Ich habe lange gebraucht, um einzusehen, dass ich kaum einen Ersatz für ihn darstellen konnte: Ich bin eben doch nur ein Bär. Aber einer mit einem großen Herzen.
    Eines Morgens kam Alice in die Stube und heizte den Ofen an. Sie zog sich den Morgenmantel fest um die Schultern und schüttete Kohlen ins Feuer. Es war merklich kühler geworden. An meinem Platz am Fenster zog es, und die Scheibe war jetzt morgens immer eiskalt.
    »Scheint so, als wäre der Winter jetzt endgültig da«, sagte Alice und kehrte die Asche vor dem Ofen zusammen. »Es ist ja auch nicht mehr lange bis Weihnachten.«
    Sie hasste Weihnachten, das hatte sie in einem Gespräch mit Elizabeth erwähnt, die, wie sich herausstellte, alle vierzehn Tage zum Tee kam, um Neuigkeiten auszuplaudern.
    »Mir graut es so vor den Feiertagen«, hatte Alice ihrer Freundin anvertraut. »All diese Feierlichkeiten bedeuten mir nichts.«
    Ich wusste nicht, was es mit Weihnachten auf sich hatte. Doch wenn es Alice davor graute, konnte es kein Spaß sein. Elizabeth

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