Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
verflochten. Und ich hatte inzwischen auch wieder häufiger Platz im Bett. Da ich sozusagen Trauzeuge war, kam weder Gianni noch Isabelle auf die Idee, mich zu verbannen. Gianni sprach sogar manchmal mit mir.
»Du hast vielleicht eine verrückte Besitzerin«, sagte er. »Heute Morgen hat sich mich einfach von der Arbeit entführt.«
Wieso das denn?
»Sie wollte unbedingt mit mir nach Fiesole. Das ist ein kleiner Vorort, oben in den Hügeln. Weil sie in einem alten Buch eine Liebesszene gelesen hat, die dort oben spielt. Sie wollte unbedingt nachsehen, ob es dort immer noch so romantisch ist wie damals, als das Buch geschrieben wurde – nach vierzig Jahren.«
»Na und«, schaltete sich Isabelle in unser Gespräch ein. »Stimmte doch, oder nicht?«
»Sie wollte, dass ich mich an den Rand einer Lichtung stelle und ›Courage‹ hinunter ins Tal rufe. ›Courage and love‹. Wie der Mann in diesem englischen Buch. Sie ist verrückt, deine Besitzerin.«
Vierzig Jahre? Das englische Buch? Ich war sicher zu wissen, von welchem Buch die Rede war, und musste lächeln. Nun, Victor, da haben wir das romantische Florenz.
Sie lachten.
»Das ist eben das Wichtigste«, sagte Isabelle.
»Das Wichtigste ist, dass wir zusammen sind«, erwiderte Gianni leise und nahm seine Brille ab. »Ich muss dir was sagen, Isabelle«, fuhr er dann fort.
Mir stockte der Atem. Solche Ankündigungen verhießen nichts Gutes. Ich sah, wie auch Isabelle überrascht aufschaute. Ängstlich.
Irgendwo stolperte jemand über einen Topf. Es schepperte.
»Ich kann über Weihnachten nicht hierbleiben.«
Ich atmete auf. Ach so. Ich hatte schon befürchtet, es wäre etwas Ernstes.
»Oh«, machte Isabelle nur.
»Meiner Mutter geht es scheinbar nicht sehr gut. Sie hat sich gewünscht, dass ich die Feiertage bei ihr in Rom verbringe.«
»Ich werde hierbleiben, es ist zu weit nach Hause.«
»Ich wäre viel lieber mit dir zusammen. Aber ich kann meine Mutter nicht enttäuschen. Außer mir hat sie doch niemanden.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie und schluckte. »Sicher bleiben auch noch ein paar von den anderen da. Stefano zum Beispiel.«
Sie grinste schief.
»Ach komm. Es sind nur ein paar Tage. Zu Silvester bin ich wieder da. Und dann beginnen wir das neue Jahr gemeinsam.«
»Ja«, sagte sie. »Das machen wir.«
Sie rang um Fassung, das wusste ich genau. Ich kannte meine Isabelle. Sie schluckte schwer und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sicher hatte sie sich bereits vorgestellt, wie sie mit Gianni (und vielleicht ja auch mit mir – ein wenig Hoffnung sei erlaubt) eine Kerze anzünden und Weihnachten feiern würde.
»Wann wirst du abreisen?«
»Übermorgen.«
»Übermorgen schon?«, rief sie aus und klang dabei erschrockener, als sie beabsichtigt hatte.
»Je eher daran, je eher davon«, erwiderte er und lächelte sie traurig an.
Die Zeit verging im Flug. Die beiden schlichen sich immer häufiger aus der Bibliothek, doch das nahm ihnen niemand übel. So kurz vor Weihnachten wurde ein wenig Nachsicht geübt – aus Gründen der Nächstenliebe.
»Wir machen keinen langen Abschied draus«, sagte Isabelle, als Gianni am 22. Dezember seine Sachen packte.
Ihr nehmt seit drei Tagen Abschied!
»Du hast recht. Es sind ja, wie gesagt, nur ein paar Tage.«
»Ja«, antwortete sie und hustete. »Ich habe noch ein Geschenk für dich.«
»Ich auch für dich.«
Sie lächelten einander an.
»Buon natale !«, sagte er.
»Joyeux Noël !«, sagte sie.
»Aber erst zu Hause aufmachen«, sagte Isabelle. »Sonst bringt das Unglück!«
»Ich dachte, das wäre nur bei Geburtstagsgeschenken so.«
»Nein, auch bei Weihnachtsgeschenken.«
»Gut, dann darfst du meines aber auch erst an Heiligabend öffnen.«
Sie nickte.
»Ich gehe jetzt.«
»Ist gut.«
»Bin gleich zurück.«
»Ja.«
Er umarmte Isabelle, und ich konnte nicht umhin, an den Abschied von Marlene und Friedrich zu denken. Mir wurde ganz kalt.
»Ciao«, sagte er. »Ciao.«
»Adieu.«
Er drehte sich um und ging. Auf seinem Rücken hing sein grüner Rucksack und wippte bei jedem Schritt. An der Treppe blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.
»Courage«, rief er laut. »Courage and love!« Und dann hob er die Hand und winkte. Und Isabelle lachte durch die Tränen und winkte zurück.
Ihr Husten wurde schlimmer. Noch am selben Abend hörte sie sich an wie eine leere Blechdose. Am nächsten klang sie wie ein kaputtes Schiffshorn, doch sie arbeitete wie eine
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