Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
zur Antwort erklang der Blecheimerhusten.
»Aber ich …«
»Morgen fahren wir heim. Maman macht dir eine schöne Bouillon und Pfannkuchen, genau wie du es gerne magst«, sagte Jules und wischte sich über die Augen.
Isabelle blinzelte müde.
»Wo ist sein Geschenk?«, fragte sie. »Mein Geschenk.«
»Das finden wir wieder, keine Sorge.«
»Ist der Krieg vorbei?«, fragte sie nach einer Weile kaum hörbar.
Jules sah sie hilflos an, und ich horchte überrascht auf.
»Sind die Kinder in Sicherheit?«
»Ja, mein Schatz, du musst dir keine Sorgen machen«, sagte Jules beruhigend, und ich fragte mich, ob Isabelle mich vielleicht doch gehört hatte.
Jules fuhr uns in seinem grünen Peugeot nach Hause nach Fleurie. Am Autofenster flogen Städte und Landschaften vorüber, während Isabelle auf dem Rücksitz lag und schlief. Der Motor brummte, und die Berge ringsum wurden immer höher, die Luft immer kälter und der Schnee immer mehr. Ein paar Mal hielt Jules an, um zu tanken, und irgendwann rieb er sich die müden Augen und klingelte an der Tür eines Hotels, wo uns ein mürrischer Mann ein Zimmer zuwies. Skeptisch betrachtete er den Mann mit dem halbtoten Mädchen im Arm, widersprach jedoch nicht, als Jules nachdrücklich eine Kanne Tee und belegte Brot bestellte.
Es dauerte noch einen weiteren Tag, bis wir endlich angekommen waren, die Berge wurden wieder kleiner, der Schnee weniger und die Luft ein paar Grad wärmer, irgendwann kam Lyon in Sicht und schließlich auch das erste Schild, das den Weg ins vertraute Fleurie wies.
Es dauerte noch über eine Woche, bis Isabelle sich so weit erholte hatte, dass sie alleine essen und trinken konnte. Der Januar war schon zwei Wochen alt, als auch ihre Entschlusskraft und ihr sonst so unbeugsamer Wille wieder lebendig wurden.
»Maman, du verstehst das nicht!«, protestierte sie. »Ich muss zurück nach Florenz. Gianni wartet auf mich.«
»Mein Liebes, ich weiß zwar nicht, wer dieser Gianni ist, aber es kommt nicht infrage, dass du auch nur das Haus verlässt. Ich glaube, dir ist nicht klar, wie es um dich stand.«
»Aber ich liebe ihn. Er weiß doch gar nicht, was los ist.«
»Irgendjemand wird es ihm schon gesagt haben. Du wirst sehen, er wird sich melden.«
»Aber er weiß ja gar nicht, wo. Er hat doch unsere Adresse gar nicht.«
»Das kommt schon alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
Aber Isabelle machte sich Sorgen. Sie verzehrte sich vor Sehnsucht.
»Ich halte das nicht aus, ich muss nach Florenz.«
»Heute Nachmittag kommt der Arzt, warten wir ab, was er sagt«, wiegelte Hélène ab und wischte ihrer Tochter mit einem feuchten Lappen über das blasse Gesicht.
»Ihr habt ihm gesagt, dass er es mir verbieten soll!«, wetterte Isabelle, kaum dass Doktor Maloncours aus der Tür war. »Das war doch eure Idee. Ihr wollt nicht, dass ich fahre. Ich bin doch schon fast gesund.«
»Isabelle. Doktor Maloncours hat dir das feuchte Klima verboten. Darüber diskutiere ich nicht mit dir. Du bleibst hier, compris«, sagte Hélène entschlossen und überließ ihre Tochter ihrer Wut.
»Mon ami, was soll ich bloß machen? Was wird Gianni von mir denken? Ich weiß ja nicht einmal, wo er wohnt. Wie soll ich ihn denn finden?«
Ich musste an die langwierige Suche nach Marlene denken und fragte mich, ob es uns gelingen würde, Gianni wiederzufinden. Wie standen die Chancen?
»Wer denkt denn daran, Adressen auszutauschen, wenn man sich nur für ein paar Tage verabschiedet?«
Sie war verzweifelt, und ich konnte es besser als alle anderen verstehen. Ich kannte Gianni. Ich wusste, dass er der Richtige war. Wie grausam wollte das Schicksal sein? Wollte es mit einer müden Weihnachtslaune zwei Menschen, die zueinander gehörten, einfach so für immer auseinandertreiben?
Als nach zwei Monaten noch immer kein Lebenszeichen von Gianni gekommen war, und alle Briefe an die dreiundzwanzig Familien Bontempelli oder Bomtempelli (Isabelle hatte nie genau gewusst, wie Giannis Nachname lautete) abgeschickt worden waren und außer neun bedauernden Antwortschreiben nichts zurückkam, sah es fast so aus, als habe das Schicksal es so gewollt.
»Habe ich mich so getäuscht, Mon ami?«, fragte sie fast jeden Abend. »Sucht er denn nicht nach mir?«
Ich weiß es nicht, aber wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.
Als auch der Sommer vergangen, der Wein gelesen und Isabelle längst wieder gesund war, waren alle Bemühungen ergebnislos geblieben. Gianni blieb wie vom Erdboden
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