Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
in dem ich saß, hielt sie fest in der Hand.
»Sieh einer an«, sagte er. »Sie reisen in Begleitung?«
Alice schaute ihn verwundert an. »Nein«, sagte sie. »Wie kommen Sie darauf? Ich reise allein.«
»Und wer ist das?«, fragte er und zog mich sanft am Ohr.
He!
Wieder schlich sich ein zarter Rotton auf Alices Gesicht.
»Ach, das ist Henry. Für die Kinder, Sie wissen schon. Man kann ja nicht ohne Geschenk kommen.«
Für die Kinder? Was soll das heißen? Du willst mich doch nicht fortgeben?
Ich war ehrlich erschrocken. Der Gedanke, einmal bei jemand anderem als bei Alice zu sein, war mir noch nie gekommen.
»Die werden sich über so einen schönen Teddy sicher besonders freuen«, sagte er. »Von einem solchen Freund hat doch jeder von uns als Kind geträumt.«
Nicht nur als Kind. Ich bin Alices bester Freund. Wir teilen alles.
»Ja, ist es nicht ein Jammer, dass wir zu alt dafür sind?«, versuchte Alice zu scherzen.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war denn mit ihr los? Wieso tat sie so, als wären wir nur entfernte Bekannte, als wäre ich nichts weiter als ein Kinderspielzeug? Nach allem, was ich für sie getan hatte! Es ist schwer, das einzugestehen, aber dieses Verhalten habe ich später noch oft erlebt. In ihrem Herzen sind alle Erwachsenen Kinder, das weiß ich genau. Die einen mehr, die anderen weniger deutlich. Aber kaum einer steht dazu. Fragen Sie mich nicht, warum.
»Ich würde ihn behalten«, sagte Milton freundlich.
»Ich muss los«, sagte Alice schnell. »Der Zug wartet nicht.«
Milton nickte und ging mit dem Gepäck voran.
Auf dem Bahnsteig herrschte dichtes Gedränge. Die aussteigenden Menschen reichten Taschen durch die Fenster hinaus, Kofferträger in Uniform versuchten sich ihren Weg zu bahnen und ein weihnachtliches Trinkgeld zu kassieren. Dicker weißer Rauch hüllte die monströse Lokomotive und den Bahnsteig ein.
Alice stieg hinter Milton ein, mich fest vor der Brust, und Milton suchte ein Abteil für uns.
»Hier ist es gut. Wenn Sie auf der linken Seite sitzen, können Sie den Avon länger sehen.«
»Danke, Milton«, sagte Alice, »das ist überaus freundlich von Ihnen.«
»Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest, Alice«, sagte er mit leiser Stimme. »Und vergessen Sie nicht, was Sie versprochen haben«, fügte er mit einem offenherzigen Lächeln hinzu. »Sie kommen mich besuchen.«
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Alice. »Und gesegnete Weihnachten.«
»Auf bald.«
Er wandte sich zum Gehen. Dann sagte er zu mir: »Und du pass gut auf die Dame auf. London ist ein gefährliches Pflaster.« Er rollte mit den Augen.
Alice lachte und schob ihn aus dem Abteil.
»Vergessen Sie Ihre Schwester nicht!«
Theatralisch schlug er die Hände vors Gesicht. »Ja, richtig, die Schwester aus Brighton. Mir fällt gerade ein, dass sie doch erst morgen kommt.«
Mit diesen Worten verließ er den Zug, von draußen winkte er noch einmal und dann verschwand er in der Menge. Alice sah ihm kopfschüttelnd nach.
Es machte nicht den Anschein, als hätte Miltons sichtliches Bemühen irgendeine Form der Rührung in ihr ausgelöst. In meiner Brust allerdings drückte es mich zum ersten Mal wehmütig, denn ich vermutete, dass der freundliche Milton für Alice niemals mehr sein würde als ein Freund.
Die Lok zischte und stampfte, ein greller Pfiff ertönte, dann gab es einen Ruck. Langsam und laut schnaufend setzte sich der Zug der Great Western Railway in Bewegung. Wir fuhren. Aus dem Fenster sah ich steinerne Brücken, die sich über den Avon spannten. An den großzügigen Häusern und Straßen war zu erkennen, dass hier einst das bunte Leben pulsiert hatte. Dies war eine Stadt, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch Reiseziel zahlreicher Herren und Damen der Gesellschaft gewesen war, doch jetzt strahlte sie nur noch den Charme der Vergangenheit aus. Ich sah Bath. Zum ersten und zum letzen Mal.
Wir waren allein im Abteil.
»Schau, Henry«, sagte Alice, die jetzt wieder mit mir sprach und sich kein bisschen anmerken ließ, dass sie mich noch vor einer Viertelstunde schamvoll verleugnet hatte.
»Da hinten liegt Bath Abbey mit ihren zehn schönen Glocken. Dort haben wir geheiratet. Schade, man kann sie gar nicht richtig sehen. Aber da vorne, siehst du, das sind die Sydney Gardens, der schönste Park der Welt. Wenn die Sonne schien, sind Will und ich manchmal durch das Labyrinth gelaufen und haben Verstecken gespielt. Es waren herrliche Tage.« Und nach einem Moment des Schweigens fügte sie
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