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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Ich wusste ja, dass die Menschen, die an meinem Fenster vorüberliefen, immer irgendwo herkamen und irgendwo hingingen. Doch wie sich dieses Irgendwo schließlich darstellte, darauf war ich nicht gefasst gewesen.
    Und da entdeckte ich etwas, das mich für einen kurzen Moment von meinem Reisefieber ablenkte. Ich sah das Schild, das an der Straßeneinmündung zu unserer Linken stand. Vom Fenster aus hatte ich diese Kreuzung nicht sehen können, ich schaute üblicherweise in die andere Richtung, weil Alice mich immer an den linken Rand des Fensters setzte. Auf diesem Straßenschild stand eindeutig mein Name. Ich schaute noch einmal hin. Es stimmte. Dort stand zweifelsfrei Henry Street, in klaren Lettern, deutlich lesbar. Ich war stolz. Die gute Alice, dachte ich. Sie hat sogar dafür gesorgt, dass eine Straße nach mir benannt wurde!
    Am liebsten hätte ich das Schild noch ewig angesehen, doch Alice wandte sich abrupt ab und trug mich in Richtung Bahnhof davon. Ein Pferdefuhrwerk überholte uns. Der strenge Geruch von Pferdeschweiß und Leder drang mir in die Nase. Zum ersten Mal roch ich nun, was ich immer nur gesehen hatte. Nicht, dass mir der Geruch besonders zusagte, doch es war immer noch besser als die dunkle, stinkende Wolke, die der Bus hinterließ, der bimmelnd an uns vorüberfuhr.
    Menschen mit Taschen und Koffern standen vor dem Bahnhofsgebäude. Die Frauen trugen aufwendige Reisekostüme und mit Federn geschmückte Hüte. Man sah junge Männer in Knickerbockers und Ballonmütze, die unbeschwert lachend in kleinen Gruppen zusammenstanden, die Herren in langem Mantel und Melone hielten sich im Hintergrund, ab und an zog einer wichtig eine Taschenuhr hervor und warf einen kritischen Blick darauf.
    Das Gebäude des Bahnhofs Bath Spa Station war aus hellem Kalkstein gebaut. Über hohen Fenstern erhoben sich drei Giebel, die nach oben treppenförmig zuliefen. Im mittleren thronte eine Uhr, so groß, wie ich es noch nie gesehen hatte. Sie zeigte deutlich an, dass wir viel zu früh dran waren. Alice hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Ich hätte wetten mögen, dass sie ebenso nervös war wie ich. Sie war nämlich auch noch nie in London gewesen. Sie bemühte sich, ganz selbstverständlich und versiert auszusehen, doch ich spürte genau, dass sie sich zwischen diesen vielen Menschen unsicher fühlte.
    Es war der 24. Dezember, viele Leute kamen an und einige reisten ab, ganz England schien auf den Beinen zu sein. Grüße und gute Wünsche klangen durch die Luft: »Fröhliche Weihnachten« oder »Ein frohes Fest wünsche ich. Empfehlungen an Ihren Gemahl.«
    Ich mochte die Stimmung, es schien doch etwas dran zu sein, an meiner Vorstellung vom Fest der Liebe, die Menschen waren heiter und freundlich.
    »Alice«, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme rufen.
    Alice hatte es ebenfalls gehört, fast erschrocken drehte sie sich um. Vor uns stand ein groß gewachsener Mann. Er war schlank und sportlich. Sein dunkelblondes Haar war etwas länger, als es modern war, und fiel wild in seine hohe Stirn. Darunter schauten ein Paar wache Augen hervor. Er trug ein dunkles Tweedjacket und hatte einen weißen Schal um den Hals geschlungen. Auf seinem Kopf saß eine braune Schiebermütze.
    »Oh, Milton, hallo«, sagte Alice verlegen.
    »Sie fahren nach London, habe ich vernommen?«
    »Ja«, antwortete sie schüchtern und schaute zu ihrem Gegenüber auf. »Meine Schwester Patricia war so freundlich, mich einzuladen.«
    »Ich hätte mich ebenfalls sehr gefreut, wenn Sie morgen mein Gast gewesen wären«, erwiderte er mit einem breiten Lächeln. In seinen braunen Augen blitzte der Schalk. Ich mochte ihn auf Anhieb. Und er mochte Alice, das war nicht zu übersehen.
    »Danke, es war sehr nett von Ihnen, mich einzuladen. Aber, es tut mir leid …«
    »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich verstehe, dass Sie lieber bei Ihrer Familie sind. Aber Sie müssen mir versprechen, dass wir uns nicht erst zur nächsten Gartengesellschaft in Conward House wiedersehen.«
    Alice errötete und wechselte das Thema.
    »Was tun Sie hier am Bahnhof?«
    »Ich wollte Ihnen den Koffer zum Bahnsteig tragen.«
    »Sie nehmen mich auf den Arm!«
    »Nicht doch, da nehme ich lieber Ihren Koffer. Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, hole ich nebenbei meine kleine Schwester ab. Sie kommt aus Brighton.«
    Alice lachte auf. Milton schob sich die Mütze in den Nacken und griff nach Alices Koffer und der Hutschachtel. Den Beutel,

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