Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
Vom Netzwerk:
trennte ich mich von der warmen Sicherheit, die Alices Handtasche mir geboten hatte. Ich segelte über zwei oder drei Leute hinweg und landete schließlich unsanft auf dem Pflaster. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie jemand Alice ihren Beutel reichte, wie sie ihren Rock raffte und versuchte, auf die Füße zu kommen. Wie sie sich umschaute.
    Hier bin ich. Alice! Hier. Nimm mich mit!
    Doch natürlich hörte sie mich auch dieses Mal nicht. Und ich war auch nicht der, den sie suchte. Sie hatte William gesehen. Sie glaubte, sie hätte ihn gesehen. Wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob er es nicht wirklich war.
    Alice stellte sich auf die Zehen, um einen besseren Überblick zu haben.
    Ich bin hier unten. Hier unten, siehst du nicht ?
    Dann lief sie wieder los.
    Plötzlich spürte ich, wie mich eine Hand ergriff. Ich wurde in die Luft gehoben, weit über die Köpfe der Leute. Die Hand gehörte zu einer jungen Frau. Sie war mollig und hatte ein rundes Gesicht. Ihr braunes Haar war geflochten. Sie sah gemütlich aus.
    »Hallo!«, rief sie. »Warten Sie doch, Miss! Sie haben Ihren Teddy verloren! Miss! Warten Sie.«
    Nun begann auch sie zu laufen. Ihre linke Hand umschloss mich. Sie drückte vor Anspannung und Anstrengung viel zu fest zu. Mir wurde eng in der Brust. Ich spürte, wie die Liebe sich schmerzhaft bemerkbar machte. Ich hatte Angst, Alice zu verlieren.
    Alice, bitte warte auf mich.
    Von ferne hörte ich Alices Stimme:
    »Will! Will, bitte warte auf mich!«
    Irgendwann blieb das Mädchen stehen. Völlig außer Puste beugte sie sich vornüber und stemmte die Hände auf die Knie. Ihr Gesicht war hochrot, eine Haarsträhne hatte sich gelöst.
    »Die erwische ich nicht mehr«, keuchte sie, während sie sich langsam wieder aufrichtete. Sie sah sich noch einmal um, dann nahm sie mich zum ersten Mal näher in Augenschein.
    »Dann nehme ich dich eben selbst mit«, sagte sie schließlich. »Lili und Leo werden sich freuen.«
    Mit diesen Worten klemmte sie mich unter den Arm.
    Das Durcheinander am Bahnsteig hatte sich ein wenig gelichtet. Das Mädchen steuerte auf den Ausgang zu und blieb dann noch ein letztes Mal stehen.
    Da entdeckte ich sie. Alice stand gar nicht weit entfernt. Ich sah, wie sie in ihre Tasche schaute. Ich sah, wie sie den Boden absuchte. Ich sah die Verzweiflung in ihrem Gesicht. Sie war allein. Ohne William. Ohne mich.
    Ich steuerte unter dem Arm einer Fremden auf den Ausgang zu und war machtlos.

2
    W ie ungerecht das Leben sein kann, wird einem erst in vollem Umfang bewusst, wenn man sich in einer Situation befindet, an der man nichts ändern kann. Nun, das ist für mich zwar seit über achtzig Jahren Alltag und man sollte meinen, ich hätte mich inzwischen irgendwie damit arrangiert – über weite Strecken gelingt es mir ja auch – aber manchmal fällt das selbst mir schwer. So wie zum Beispiel heute.
    Ich habe mir nun wirklich rein gar nichts vorzuwerfen. Es gibt keinen Grund, mich wie einen Verbrecher hier in einem muffigen Büro einzusperren. Es scheint sich um ein riesiges Missverständnis zu handeln, das aufzuklären ich unglücklicherweise nicht in der Lage bin. Sollte es wahrlich verboten sein, in seinem Inneren ein Geheimnis zu bewahren? All die Jahre hat es doch niemanden gestört.
    Die Schriftstellerin ist noch nicht wieder aufgetaucht, ebenso wenig wie der Beamte oder Dorle, die Durchleuchterin, und auch von einem Polizisten ist bislang noch nichts zu sehen gewesen. Zum Glück. Ich bin keineswegs erpicht darauf, dass er mit seinem Messer anrückt. So lange niemand kommt, besteht immer noch Hoffnung.
    Es ist ruhig. Fliege und Neonröhre brummen im Chor, ansonsten ist kein Geräusch zu vernehmen. Ich kenne einsame Dachböden, auf denen es lebendiger zuging als auf diesem schrecklichen Flughafen.
    Mir behagt diese Ruhe nicht, denn sie zwingt mich dazu, mir Gedanken zu machen. Gedanken, die ich mir nicht unbedingt machen will, weil sie einerseits Wehmut und andererseits Angst verursachen. Wehmütig denke ich an die Momente in meinem Leben, wo alles zum Besten stand: Alice und ich gemütlich im Salon; die friedlichen Abende am Kamin, bei Victor und Emily; die warmen Nachmittage in Paris mit Robert und der Prinzessin; Julchen, die Liebe meines Lebens; die aufregenden Tage in Florenz mit Isabelle, und sogar mit der kleinen Nina in Budapest gab es Tage, an denen Lachen und Zuversicht das Haus erfüllten.
    Und die Angst? Die Angst keimt in der Machtlosigkeit, die man fühlt, wenn einem Unrecht

Weitere Kostenlose Bücher