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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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hinzu: »Ich vermisse ihn so.«
    Es schien, als gebe es kaum einen Gedanken, der nicht auf irgendeinem Weg zu William führte. Oft kam es mir vor, als würde ich ihn kennen, so viel wusste ich über ihn. Alices Liebe war unbeschreiblich groß, und manchmal befürchtete ich, dass sie vor lauter Entbehrung irgendwann den Verstand verlieren würde.
    Die Fahrt verging mit Lauschen auf den Rhythmus der Räder, die gleichmäßig über die Schwellen ratterten. Vor dem Fenster zog die Landschaft vorüber und verwandelte sich zu einem Farbenspiel aus Braun und Grün, einem Grün, das irgendwann wie aus sich selbst heraus zu leuchten begann, als die Sonne tief unter den dunklen Wolken hervorstrahlte. Es war ein schöner Tag, und nichts daran ließ auf das bevorstehende Drama schließen.
    Ich merkte, dass wir uns London näherten, weil Alice immer unruhiger wurde. Tausendmal machte sie den Beutel auf und schaute hinein. Sie holte ihren Lippenstift hervor und steckte ihn wieder ein, nachdem sie in einem Taschenspiegel kontrolliert hatte, ob ihr Gesicht noch da war, wo sie es zuletzt gesehen hatte. Tasche auf, Tasche zu. Ich war kurz davor, verrückt zu werden, als endlich der Schaffner den Gang entlangkam und verkündete, wir würden in zehn Minuten Paddington Station erreichen.
    Alice verstaute mich wieder im Beutel und zog ihren Mantel an. Auf ihrem Kopf drapierte sie einen schwarzen Glockenhut, den vorne eine große anliegende Schleife zierte. Sie verließ das Abteil und trat hinaus in den Gang.
    Paddington Station war riesig. Hoch über uns spannte sich in einem atemberaubenden Bogen ein Dach aus Metall und Glas. An den Seiten erhoben sich im Abstand von vielleicht zwanzig Metern dicke Säulen, die die zahlreichen Trägerstreben stützten. Dämmeriges Licht, das durch das Dach hereinfiel, ließ die Halle unwirklich erscheinen, und wenn nicht am Bahnsteig ein unglaubliches Gewimmel aus Pferdewagen und Menschen, Koffern und Kisten geherrscht hätte, wäre es mir gespenstisch vorgekommen, dort aussteigen zu müssen.
    Ich spürte, wie nervös Alice war. Sie drückte das Gesicht ans Fenster und versuchte Patricia zu erspähen, die versprochen hatte, uns abzuholen. Wie wollte sie zwischen all diesen Leuten ihre Schwester ausfindig machen? Das sah Alice ähnlich: Wir würden in der Großstadt ankommen und als Erstes verloren gehen, weil sie ihrer Schwester auf die Einladung leichthin geantwortet hatte: »Es ist lieb, dass du mich abholen willst. Der Zug erreicht Paddington um siebzehn Uhr vierzig. Wir sehen uns dort, Schwestern finden einander bekanntlich überall.«
    Jetzt schien Alice selbst zu merken, dass der kleine Bahnhof Bath Spa Station nichts weiter mit London Paddington gemein hatte, als dass Gleise hinein und heraus führten.
    »Na, das kann ja heiter werden«, sagte sie leise vor sich hin. »Wollen wir hoffen, dass Pat noch immer durch ihren scheußlichen Hutgeschmack auffällt.«
    Ich lachte in mich hinein. Alice und die Hüte, das war wahrhaftig ein Thema für sich.
    Die Lokomotive schnaufte, die Bremsen quietschten laut und schrill, es zischte und qualmte und der Bahnsteig verschwand im dichten Nebel. Von draußen wurden die Türen geöffnet, und ein kaum sichtbarer Bahnsteigwärter streckte Alice die Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie warf noch einmal einen suchenden Blick auf die Menge, um Pat auszumachen. Da erstarrte sie.
    »Das ist Will«, flüsterte sie erst kaum hörbar. Dann lauter: »William!«
    Sie ließ die Hand des Bahnsteigwärters fahren, vergaß Gepäck und Schicklichkeit und sprang aus dem Zug.
    »Will!«, schrie sie aus Leibeskräften. Und dann noch einmal: »Will!«
    Sie rannte los in die Richtung, in der sie meinte, William gesehen zu haben. Ein Mann kam ihr in die Quere, und sie rempelte ihn an, machte sich jedoch nicht die Mühe, sich zu entschuldigen. In wilden Haken versuchte sie Menschen und Hindernisse zu umgehen, strauchelte, fiel fast und rappelte sich wieder auf. Der Beutel, in dem ich saß, schlenkerte an ihrer Hand vor und zurück.
    »Will!«, rief sie wieder. »Warte, William! William!«
    Der Männerkopf, den sie im Visier hatte, verschwand in der Menschenmenge und schien schon fast verloren, da tauchte er wieder auf. Alice lief, so schnell ihre Füße sie trugen und wie die Umstände es zuließen.
    Da schoss plötzlich wie aus dem Nichts ein kleines Mädchen hervor und lief ihr direkt zwischen die Beine. Alice fiel. Ihre Tasche flog. Ich flog. In hohem Bogen

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