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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Es sieht aus, als winken sie uns mit ihren Vorderhufen zu, siehst du, wie sie winken?«
    Nina nickte leise. Ihr Herz klopfte dicht an meinem Ohr, und ich wusste, dass sie diesen Traum mit Ilona und ihrem Vater mitträumte, daß sie fühlte, wie hart die Klappstühle unter ihrem Po waren, wie die Luft nach Tieren roch und die Atmosphäre von Spannung geladen war.
    Ilona erzählte weiter. Sie beschrieb die Löwen, die Seehunde und den Zauberer, die Akrobaten und die Seiltänzerinnen und wurde nicht müde, für ihre Beschreibungen die schillerndsten Bilder zu wählen, die man sich vorstellen konnte.
    Maurus sah Ilona still an, mit der freien Hand hatte er nach ihrer gegriffen. Die drei hielten einander fest, waren eins. Sie waren zusammen im Zirkus.
    »Jetzt kommt noch der Clown«, sagte Ilona dann. »Er trägt eine riesige schwarz-weiß karierte Mütze, und darunter schauen ganz wilde knallrote Haare hervor. Er hat eine rote Nase und sehr große Augen. Er ist der berühmteste Clown der Welt. Er heißt Oleg Popov und ist extra wegen dir gekommen. Er verbeugt sich vor dir.«
    Nina lächelte.
    »Wirklich?«, fragte sie mit rauer Stimme.
    »Natürlich«, sagte Ilona. »Es ist ganz dunkel in der Manege, nur ein kleiner, kreisrunder Fleck ist hell erleuchtet, es sieht aus wie eine Sonne. Im Hintergrund spielt leise ein Klavier. Schau, Oleg setzt sich auf den Sonnenfleck und holt eine Flasche aus einem Korb und ein großes Stück Brot. Er macht wohl ein Picknick. Oh, er sieht sehr zufrieden aus. Aber was ist denn das? Der Sonnenfleck wandert einfach fort. Oleg springt hinter ihm her und versucht ihn einzufangen, aber der Fleck ist schneller. Schwups, noch ein Stück weiter, und Oleg immer wieder hinterher. Die Leute lachen über seine Tollpatschigkeit. Da, jetzt hat er ihn erwischt! Oleg legt sich auf den Fleck und streichelt ihn ganz zart, ja, er scheint ihm gut zuzureden. So ist’s gut, lieber Fleck, schön dableiben. Es sieht ganz so aus, als sei der Sonnenfleck besänftigt. Nun kann Oleg wohl sein Picknick fertig essen. Was? Jetzt will der Fleck schon wieder weg. Oleg streichelt ihn noch einmal. Ja, so ist es gut. Doch plötzlich kommt jemand anders und will den Clown verjagen. Und siehst du das? Er kniet sich hin und umarmt den Fleck, und dann schiebt er ihn ganz, ganz vorsichtig zusammen, mit beiden Händen, gerade so, als würde er ein Häufchen Erde zusammenschieben. Der Sonnenfleck wird immer kleiner, und jetzt ist er so klein, ganz handlich ist er jetzt, und Oleg nimmt seine Tasche und schiebt das Licht in seine Tasche. Nun kann er es nicht mehr verlieren. Siehst du, wie es aus seiner Tasche leuchtet? Siehst du, wie er strahlt? Über das ganze Gesicht.«
    Sie hob langsam den Kopf und sah Maurus fest in die Augen. Ohne den Blick abzuwenden, sprach sie weiter:
    »Und die Leute klatschen, sie klatschen wie verrückt, und weißt du was, meine Kleine? Sie klatschen gar nicht für Popov, sie klatschen für dich, nur für dich. Weil du unser Stern bist, weil du so ein tapferes, kluges und starkes Mädchen bist, weil …«
    »Ja«, hörte ich Ninas Stimme. »Mit euch …«
    Ninas Herz pochte leise, sehr leise. Ich hörte, wie der Atem in ihre Lungen strömte und wieder heraus. Ich hörte ihr Blut rauschen und ihren Magen gurgeln, ich hörte, dass sie lebte, und ich hatte nur den einen Wunsch, dass sie durchhalten würde, dass sie stark genug war, dass Liebe helfen würde, denn davon gab es ausnahmsweise genug. Und irgendwie glaubte ich für einen Moment sogar daran.
    Doch Nina schaffte es nicht.
    Sie starb ganz leise, wie es ihre Art war, an einem Morgen um zehn.
    Im Fernsehen berichtete man an diesem Tag von zwei Männern, die in einem kleinen Grenzort namens Sopron ein Loch in den Eisernen Vorhang geschnitten hatten und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn symbolisch geöffnet hatten. Zu spät für Nina.
    Es gibt viele Arten zu trauern, und keine davon ist besser oder schlechter als die andere, weshalb es niemandem zusteht, darüber zu urteilen. Auch nicht einem Bären.
    Nach ein paar Wochen hielt Maurus es nicht mehr aus, mich und die anderen Spielsachen von Nina um sich zu haben. Er bat Ilona, alles in eine Kiste zu packen und sie auf den Dachboden zu stellen.
    »Ich kann diese Dinge nicht mehr sehen«, sagte er. »Wenn dieser Teddy mich anschaut, tut sich vor mir ein schwarzer Abgrund auf. Vielleicht ist es nicht richtig, aber so denke ich immer, sie wäre noch da, ich denke, sie ist …« Seine Stimme

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