Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
seinem Regenschirm vom Himmel geschwebt kam und dann allerhand anstellte.
Der Alltag hielt Einzug, und schon nach ein paar Tagen kannte ich die Abläufe und ihre Geräusche.
Morgens um halb sechs klingelte nebenan ein Wecker, dann waren die Schritte von Ilonas nackten Füßen auf dem Parkett zu hören und wenig später die Haustür. Sie ging zu ihrer Schicht als Tram-Schaffnerin auf der Linie 4. Beim Abendessen erzählte sie oft Geschichten aus der Straßenbahn, von vergessenen Hunden, Koffern und Kindern, von Verrückten und Betrunkenen.
Maurus übte viele Stunden am Tag auf seinem riesigen Flügel, Stunden, in denen Nina schlief und ich zufrieden lauschte.
»Wenn Papa spielt, kann ich so schön träumen«, sagte Nina. »Er spielt Bilder für mich. Wenn er Grieg spielt, die Klaviersonate in C, dann träume ich immer von ganz viel Wasser. Und wenn er Beethoven spielt, die Pathétique, dann träume ich vom Sommer.«
Ich konnte sie gut verstehen. Maurus hatte eine Art, das Klavier zum Klingen zu bringen, dass die Welt sich nach seinen Tönen zu richten schien.
Ich mochte diese Tage, an denen nichts Außergewöhnliches passierte, an denen das Leben leise dahinplätscherte und die Sorgen, die anfangs wie eine schwere Hand auf allen gelastet hatte, immer weniger Gewicht hatten. Ich fühlte mich zu Hause.
Es dauerte eine Weile, bis ich herausbekam, dass Ilona gar nicht Ninas Mutter war, denn zumindest ich merkte keiner von beiden etwas an. Und dass Ilona nicht denselben Nachnamen trug wie Nina und Maurus, erfuhr ich sogar erst an diesem unglückseligen Tag kurz vor Ostern. Die drei wirkten so harmonisch und normal, dass ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen war, dass sie keine gewöhnliche Familie waren. Mir war zwar nicht entgangen, dass Maurus ein besonders enges Verhältnis zu Nina hatte, aber so ungewöhnlich war ein liebevoller Vater nun auch nicht, dass man hätte nachdenklich werden müssen. Bis Anfang März lebte ich zufrieden in meinem Irrglauben.
Nina hustete wenig und war, wenn auch nur langsam, wieder ein wenig zu Kräften gekommen. Sie durfte noch nicht in die Schule, dazu war sie noch zu wackelig auf den Beinen, aber im neuen Schuljahr, das hatte Maurus versprochen, könnte man darüber nachdenken, wenn sie weiter solche Fortschritte machte. Wir vertrieben uns die Zeit mit Spielen. Memory war eines unser Lieblingsspiele, was so viel heißt, dass Nina Memory spielte und ich im Stillen gegen sie antrat. Sie sah mich an und sagte:
»Soll ich für dich aufdecken, Mici?«
Ja, bitte.
»Also gut. Bist du sicher, dass ich diese Karte nehmen soll?«
Nein, nicht die. Die rechts daneben.
»Tja, du hast es so gewollt. Aber ich hätte dir gleich sagen können, dass die Frösche unter der Karte rechts daneben liegen.«
Ich bekam kein Paar und seufzte.
»Ich bin dran«, plapperte sie weiter. »Ich suche mir die Enten.«
In der untersten Reihe. Am Rand rechts und die dritte von links.
Sie deckte zwei Karten auf. Eine davon war falsch.
»Oh, da habe ich mich vertan, ich wollte eigentlich die Karte daneben«, sagte sie und nahm sich das Paar, obwohl sie zuerst falsch gelegen hatte.
Du beschummelst dich selbst.
»Na, spielst du Memory gegen dich selbst?«, fragte Maurus plötzlich. Er hatte schon eine Weile in der Tür gestanden und uns zugesehen, doch Nina war so vertieft in unser Spiel gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Sie sah zu ihm auf.
»Nein, gegen Mici. Aber ich gewinne.«
Kunststück.
»Hast du deine Tabletten schon genommen?«, fragte er.
»Ja, zum Mittagessen.« »Was hast du denn gegessen?«
»Ilona hat Letscho gemacht. War lecker.«
»Gut.« Maurus lächelte. »Glaubst du, wir beide könnten am Samstag einen kleinen Ausflug unternehmen?«, fragte er dann.
Nina sah zu ihm auf. »Nur wir beide?«
»Nur wir beide.«
»Au ja. Gehen wir endlich in den Zirkus?«
»Nein. Ich dachte, wir gehen zu Ruszwurm …« Er verstummte.
Wer oder was war Ruszwurm? Der Name hörte sich nicht besonders Vertrauen erweckend an.
Die Stille, die im Raum hing, war eigentümlich, ich spürte, dass es um mehr ging als um einen einfachen Ausflug.
»Es ist wegen Mama.« Nina senkte den Kopf.
»Ja, das ist es. Am Samstag ist es fünf Jahre her. Und Mama ist doch immer so gerne bei Ruszwurm Kaffeetrinken gegangen.«
»Ist gut«, sagte Nina und kletterte vom Stuhl.
»Es ist doch schön, auf diese Weise an sie zu denken, oder? Sicher sieht sie uns vom Himmel aus zu und freut sich, wenn wir beide mal
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