Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
bisher so gut wie unbeweglich neben der Tür gestanden hatte, und belud das Tablett mit dem Crown Derby Porzellan. Er war noch nicht an der Tür, da brach der Streit von Neuem los.
»Ich hatte ihn zuerst«, schimpfte Leo und zog in einem Überraschungsangriff an meinem linken Arm. Doch seine Schwester ließ sich so schnell nicht übertölpeln. Sie hielt dagegen.
»Ich will ihn aber auch mal halten! Gib ihn mir!«, heulte sie und riss ebenso kräftig an meinem rechten Arm. Es knirschte.
Meine Schulter!
Seit mir am Nachmittag in Paddington Station der Schreck in die Glieder gefahren war, fühlte ich mich wie gelähmt. Die Ereignisse dieses Tages überstiegen mein Fassungsvermögen um ein Vielfaches. Meine erste Begegnung mit London war in einem dicken Nebel aus Verwirrung untergegangen. Von der Fahrt mit einem Zug, der sich unter der Erde durch einen stinkenden Tunnel quälte, von den weiten Straßenzügen Camdens, die von Menschen, Automobilen, von Geschäften und Straßenhunden bevölkert waren, hatte ich so gut wie nichts mitbekommen. Meine Gedanken hatten sich stundenlang wie wild im Kreis gedreht, und ich konnte keinen Ausweg aus diesem fürchterlichen Karussell finden. Alice ist weg, hämmerte es in meinem Kopf. Ich werde sie nie wieder sehen. Ich bin allein. Ich bin auf sie angewiesen. Sie ist die Einzige, die mich versteht. Was wird mit mir geschehen? Und dann begann der Reigen von vorn: Alice ist weg. Ich werde sie nie wieder sehen … Es war schrecklich.
Erst als ich im Lichterschein des Weihnachtsbaums plötzlich fühlte, wie alle Nähte, die Alice liebevoll und mit großer Sorgfalt vernäht hatte, spannten, knirschten und zu bersten drohten, weil die beiden Kinder so unnachgiebig an meinen Armen zerrten, kam das Karussell in meinem Kopf zum Stehen. Plötzlich nahm ich meine Umgebung wahr und erkannte, dass dieser Tag kein schlechter Traum gewesen war. Ich fühlte, wie ich mich weiter dehnte und streckte, als ich aushalten konnte. Es fühlte sich nicht gut an. Nichts fühlte sich mehr gut an, seit ich Alice verloren hatte. Meine Bärenseele war ein Scherbenhaufen, und jetzt würde auch noch mein Körper in Stücke gehen.
Hört auf, ihr macht mich kaputt. Ich bin doch nur ein Bär.
»Nun hört schon auf«, sagte Victor. »Ihr macht ihn noch kaputt!«
»Dann soll Lili loslassen. Cathy hat ihn mir geschenkt!«
»Kinder! Es ist doch nur ein Teddybär«, sagte Emily, die Mutter dieser schrecklichen Ungeheuer.
Sie hatte an diesem Tag ohnehin einen schlimmen Anfall von Kopfschmerzen, wie sie in den vergangenen zehn Minuten immer wieder betont hatte. Wenn die Kinder nicht bald von mir ließen, würde ich ebenfalls Kopfschmerzen oder vermutlich noch weitaus Schlimmeres bekommen, dessen war ich mir sicher. Obwohl ich mich ernstlich fragte, wie viel schlimmer es eigentlich noch werden konnte.
Cathy stand in der Tür. Das rundliche, weiche Mädchen sah ganz anders aus als am Nachmittag, als sie mich in Paddington vom Boden aufgelesen hatte. Sie trug eine schwarze Bluse und einen schwarzen Rock, den eine kleine, weiße Schürze zierte. Auf ihrem Kopf thronte ein weißes Häubchen. Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte sich nicht verändert, sondern war gleichbleibend freundlich und offen. Sie hielt sich dezent im Hintergrund, und die Art, wie sie den Kopf senkte, sagte mir, dass sie, genau wie James, der das Geschirr abgeräumt hatte, nicht zur Familie gehörte.
»Da haben Sie ja etwas Feines angerichtet, Cathy«, sagte Emily kopfschüttelnd.
»Verzeihen Sie, Ma’am, ich dachte …«, sagte Cathy leise.
»Ich bitte dich, Emy, es war doch sehr freundlich von Cathy, die Kinder zu beschenken«, besänftigte Victor, und an Cathy gewandt: »Es ist schon in Ordnung, Cathy. Sie haben den Kindern eine große Freude gemacht, das ist ja nicht zu übersehen.«
Er musste lächeln, denn genau in diesem Moment ließ Lili meinen Arm los und griff stattdessen entschlossen nach Leos Haaren, um kräftig daran zu ziehen. Ich ging polternd zu Boden, als der Junge sich mit beiden Fäusten und lautem Kreischen zur Wehr setzte.
»Verzeihen Sie, Sir, es war wirklich nicht meine Absicht, Unfrieden zu säen …«
»Mein Kopf«, stöhnte Emily. »Ich wünschte, es würde friedlicher bei uns zugehen.«
Plötzlich beachtete mich niemand mehr. Zwischen den Füßen der Kinder rutschte ich hilflos über das gebohnerte Parkett. Milton hatte recht gehabt, London war wirklich ein gefährliches Pflaster. Nur hätte Alice besser auf
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