Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
mich aufpassen müssen und nicht umgekehrt. Und überhaupt: Weihnachten! Von wegen Fest der Liebe! Ich musste gegen meinen Willen lachen. Mit der Liebe, von der Alice gesprochen hatte, hatte dieses Gezeter und Geschimpfe wahrlich wenig zu tun.
Ich fing Cathys Blick auf, als ich durch einen Kinderlackschuh vom Bauch auf den Rücken gedreht wurde.
Hilf mir doch! Du hast mich immerhin in diesen Schlamassel gebracht!
Und als hätte sie mich gehört, kam sie tatsächlich auf mich zu und rettete mich zum zweiten Mal an diesem Tag vor achtlosen Tritten.
Warum hast du mich nicht einfach bei dir behalten, anstatt mich diesen zwei verwöhnten Gören zum Fraß vorzuwerfen?
In Anbetracht der neuen Umstände hätte ich mich sicher schnell an Cathy gewöhnt. Womöglich wäre sie nach einer Weile auch eine gute Freundin geworden. Natürlich nicht so eine gute wie Alice. Es verstand sich von selbst, dass niemand Alice würde ersetzen können. Keinesfalls. Sie war einzigartig.
Wenn ich heute auf die lange Reihe meiner Besitzer zurückschaue, weiß ich, dass jeder von ihnen einzigartig war. Jeder hatte gute und schlechte Seiten, jeder hatte seine eigene Geschichte und jeder bereicherte mein Leben, das mit jedem neuen Besitzer von vorn begann, auf eigene Weise. Ich habe viele Leben gelebt, und manch eines war schöner als das andere, aber missen möchte ich keines.
Cathy nahm mich in den Arm und sah die Kinder strafend an. Doch sie sagte nichts. Ich wusste nicht, dass es ihr nicht zustand, die Kinder in Gegenwart der Eltern zu tadeln. Ihr Blick sprach allerdings Bände.
Lili und Leo hielten in ihrem Kampf inne, als sie erkannten, dass ihr Streitobjekt plötzlich in die Hände eines Erwachsenen geraten war.
Ich hörte, wie Cathys Herz klopfte, als sie mich an sich drückte. Ich verspürte etwas, das Erleichterung gleichkam. Ich war in Sicherheit. Jetzt würde sie mich mit zurück in ihre kleine Kammer nehmen, in der wir schon am frühen Abend gewesen waren, als sie sich für ihren Dienst umkleidete und mir den Bahnhofsstaub aus dem Fell bürstete. Sie hatte mich mit ein paar Tropfen Eau de Cologne besprenkelt und mir eine rote Schleife um den Hals gebunden. In meiner Schreckstarre hatte ich alles über mich ergehen lassen. Nicht, dass ich mich hätte widersetzen können, aber ich hatte nicht einmal wehrhafte Gedanken – selbst als sie das Parfum über mich kippte nicht. Dabei hasse ich Parfum. Vermutlich wegen Elizabeth Newman, die immer zu viel aufgetragen hatte.
Cathys Behausung war viel kleiner und karger eingerichtet als die Räume ihrer Herrschaft. Es gab in ihrer Kemenate ein winziges Fenster, unter dem ein Tisch stand, aber ich war nicht einmal neugierig gewesen, welche Aussicht man von dort hatte. Doch jetzt, nach dieser entsetzlichen Begegnung mit den beiden Kindern, erschien mir Cathys Zimmer plötzlich wie der schönste Ort auf Erden. Wenn ich doch nur aus diesem Fenster schauen könnte!
Bitte, nimm mich wieder mit. Ich möchte diesen groben Händen nicht ausgeliefert sein!
Doch Cathy schien für mein weiteres Flehen kein Ohr mehr zu haben. Jedenfalls nahm sie mich nicht mit, sondern setzte mich stattdessen entschlossen auf den einzig freien Stuhl am unteren Ende der festlich gedeckten Weihnachtstafel. Mir gegenüber am Kopfende saß Victor und schaute mich prüfend und doch amüsiert über seine Brille hinweg an. Emily saß zu seiner Linken, zu seiner Rechten zeigten zwei Schlachtfelder deutlich an, wo die Kinder gegessen hatten.
»Sieh einer an«, sagte Victor. »Endlich sitzt mal jemand Vernünftiges auf diesem Platz, und ich muss nicht immer nur einen leeren Stuhl ansehen. Es scheint eben nicht nur ein Bär zu sein, Emy, mein Schatz.«
»Victor, bitte!«, seufzte Emily und wandte den Blick zum Himmel.
»Ich denke, wir lösen das Problem auf ganz einfache Weise«, fuhr er fort, ohne den Einwand seiner Frau zu beachten. »Dieser Bär gehört weder Lili noch Leo. Er gehört niemandem.«
»Aber, Daddy!«, rief Leo aus. »Cathy hat ihn uns geschenkt! Das ist ungerecht!«
Lili sah ihren Vater aus großen Augen an, die sich langsam mit Tränen füllten.
»Nein«, erwiderte Victor und tat, als habe er nicht gehört, dass Leo gerade ganz von selbst uns gesagt hatte, »das ist es keineswegs. Ein Bär wie dieser kann niemandem gehören, genauso wenig, wie man andere Menschen besitzen kann. Dieser Bär ist sein eigener Herr, das ist wohl nicht zu übersehen. Ich denke, wir sollten ihn als neues Familienmitglied
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