Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
widerfährt. Ich habe so viel Unrecht geschehen sehen. Menschen, die keine Chance hatten und der Willkür anderer ausgeliefert waren, weil sie zur falschen Klasse, zur falschen Rasse oder zur falschen Familie gehörten, weil sie im falschen Land lebten. Oder einfach, weil sie Kinder waren, oder schwach. Wirklich verstanden habe ich nie, wie die Menschen es geschafft haben, dass manche von ihnen glauben, sie seien mehr wert als andere. Irgendein Philosoph (ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern, Victor hat den Kindern immer von ihm erzählt, weil er genau wie Victor ein Verfechter der Pünktlichkeit und der frühen Nachtruhe war, so viel weiß ich noch) hat mal gesagt, dass man immer in dem Bewusstsein handeln soll, dass die eigenen Regeln für alle als Gesetz gelten könnten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich alle an diesen Grundsatz halten. Soviel habe ich über die Menschen gelernt: Die meisten denken zuerst an sich selbst und finden für alles, was sie tun, eine Rechtfertigung, und die ist nicht immer zum Besten aller. Vielleicht bin ich deshalb so anfällig, wenn es an mein Gerechtigkeitsempfinden geht, gleich, ob es mich betrifft oder die Menschen, die um mich herum sind.
Fest steht, dass die Schriftstellerin und ich eine Menge überflüssigen Ärger haben und für etwas verdächtigt werden, dessen wir völlig unschuldig sind. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass auch wir Opfer einer maßlosen Ungerechtigkeit werden. Oder besser gesagt ich . Denn heute weiß ich, dass die Welt so viel mehr ist als gut und ein Ort voller Liebe. Und diesmal scheint es keinen Ausweg zu geben.
DIE WELT IST MEHR
N ein, gib ihn her! Cathy hat ihn mir geschenkt!«, schrie Leo.
»Das ist nicht wahr! Du lügst! Mum, Cathy hat ihn uns beiden geschenkt, nicht wahr? Du bist gemein!«, schrie Lili zurück.
»Du lügst ja selber! Daddy! Sag ihr, sie soll den Teddy loslassen!« Die Stimme des Jungen hob sich ins Falsett.
»Nein!«
»Doch!«
»Lügner!«
»Dumme Gans!«
Die Situation war grotesk.
Ich tanzte zwischen den beiden in der Luft, wie ein Ballon im Wind: willenlos, machtlos; ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, so drehte sich alles um mich herum. An jedem meiner Arme zog und zerrte ein mir zu diesem Zeitpunkt noch fremdes, zorniges Kind – mit aller Kraft und ohne Rücksicht auf Verluste (die natürlich meinerseits zu beklagen waren).
»Victor, bitte sprich ein Machtwort«, erklang die schwache Stimme einer Frau.
»Leolili!«, übertönte eine tiefe Männerstimme das Gezeter, die offenbar dem Vater der beiden Zankhähne gehörte. »Ich kann nicht glauben, dass ihr euch am Weihnachtsabend so schrecklich aufführt. Ihr treibt eure Mutter noch in den Wahnsinn.«
Für einen kurzen Augenblick hielten die beiden Kinder inne, und ich bekam die Gelegenheit, meine Peiniger anzusehen. Sie waren vornehm gekleidet. Der Junge sah aus wie ein zu klein geratener Bankier, in Anzug und weißem Hemd. Der blonde Haarschopf war in einen Seitenscheitel gezwungen, der, wie ich später merkte, nie länger hielt als eine halbe Stunde. Aus dem runden Gesicht starrten wütende blaue Augen, darunter hob sich eine kleine Nase mit bebenden Flügeln gen Himmel.
Das Mädchen trug ein roséfarbenes Kleid, in dem es aussah wie eines der Sahnetörtchen, die Elizabeth Newman immer zum Tee mitgebracht hatte. Das ganze Ensemble wurde von einer großen Schleife auf dem Rücken gekrönt. Ihr Haar war dunkler als das ihres Bruders und war in ebenfalls roséfarbenen Schleifen zu zwei kleinen Zöpfchen zusammengebunden. Sie trug weiße Kniestrümpfe, von denen einer hartnäckig rutschte. Ihre Augen konnte ich nicht erkennen, sie waren schmal und aus den Schlitzen blitzte blanke Entrüstung. Ihr kleiner Mund war vor Zorn verzerrt.
Die beiden mochten vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein, ich konnte das nicht genau abschätzen, denn mit Kindern hatte ich damals noch so gut wie keine Erfahrung. Und ehrlich gesagt war ich spontan bereit, sie zu verabscheuen. Sie hatten offenbar vor, mich in Stücke zu reißen, und so etwas tut man einfach nicht.
Überhaupt wollte das Benehmen der beiden rein gar nicht zu dem passen, was sie darstellen sollten: kleine Erwachsene, beherrscht, anständig und gesittet.
Sie schauten ihre Mutter an, die sich matt den Handrücken an die Stirn presste und zu einem Mann in schwarzer Livree sagte:
»James, Sie können abräumen, es isst ja doch niemand mehr.«
»Sehr wohl, Ma’am«, sagte der Mann, der
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