Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket (German Edition)
blieb in der Tür stehen. »Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Kein Problem«, sagte Barnaby, der sich sowieso schon etwas einsam gefühlt hatte und sich über die Gesellschaft freute. »Du kannst dich gerne zu mir setzen.«
Palmira lächelte und nahm auf einem der umgedrehten Fässer neben ihm Platz. »Ich komme meistens hierher, wenn ich Pause mache«, sagte er. »Hier ist es ruhig, und ich kann allein sein mit meinen Gedanken.«
Barnaby nickte. Er fragte sich, ob sie jetzt auch lieber allein wäre, aber andererseits wollte er sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen. In der vergangenen Nacht hatte er von Palmira geträumt: Sie hatten beschlossen, gemeinsam nach Sydney zurückzugehen. Ein Teil von ihm hätte ihr gern von diesem Traum erzählt, aber er genierte sich dann doch zu sehr.
»Gefällt es dir hier auf der Farm?«, fragte sie ihn.
»Ja, sehr«, antwortete Barnaby. »Ethel und Marjorie sind sehr gut zu mir.«
»Sie sind gute Menschen«, stimmte Palmira ihm zu. »Mein Vater und ich, wir sind ihnen zu großem Dank verpflichtet.«
»Ich mag Thiago«, sagte Barnaby. »Er hat mir beigebracht, wie man auf einem Esel reitet.«
Barnaby sah, dass Palmira Tränen in die Augen stiegen, als er das erzählte. Sie legte sich die Hand auf den Bauch und ließ sie kurz dort liegen. War ihr vielleicht übel? »Mir hat er auch sehr viel beigebracht«, sagte sie dann. »Aber jetzt spricht er nicht mehr mit mir.«
»Bist du hier auf die Welt gekommen?«, erkundigte sich Barnaby. Palmira schüttelte den Kopf.
»Nein. Nicht mal in Brasilien. Meine Familie war sehr arm. Ich wurde in Argentinien geboren, in einer Stadt, in der es nur Armut gibt. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ganz klein war, und bald darauf sind mein Vater und ich über die Grenze gegangen und haben diese Kaffeefarm hier gefunden. Miss Ethel und Miss Marjorie haben uns aufgenommen, und seither leben wir hier.«
»Kennst du Vincente?«, fragte Barnaby. In seinem Zimmer hatte er mehrere Skizzenbücher mit sagenhaften Zeichnungen gefunden, die alle mit diesem Namen signiert waren. Die meisten waren Darstellungen von Menschen, die aber alle nicht aussahen wie die Menschen, die Barnaby kannte. Die Figuren standen im Mittelpunkt und waren umgeben von Dingen, die zum Leben der dargestellten Person zu gehören schienen. Eine Zeichnung, die ihm besonders gut gefiel, zeigte einen Jungen, der etwa so alt war wie er selbst, und um ihn herum waren ganz grelle Farben und Blitze, leere Teller und komplizierte Karten von Südamerika. Als er das Bild umdrehte, sah er, dass auf der Rückseite in säuberlicher Handschrift das Wort Selbstporträt stand.
»Ja, natürlich kenne ich ihn«, antwortete Palmira. »Er hat seine ganze Jugend hier verbracht.«
»Kannst du mir ein bisschen von ihm erzählen? Ich habe die Bilder angeschaut, die er hiergelassen hat. So was habe ich echt noch nie gesehen. Und das riesige Gemälde im Flur bei der Küche – das ist auch von ihm, stimmt’s?«
»Ja, stimmt. Es ist sehr schön, findest du nicht auch? Ich könnte es stundenlang anschauen. Miss Ethel und Miss Marjorie haben Vincente kennengelernt, als er acht oder neun Jahre alt war. Sie haben ihn dabei beobachtet, als er gerade … wie heißt das noch mal? Wenn man auf die Außenwand eines Gebäudes etwas malt oder zeichnet?«
»Kunst?«, schlug Barnaby vor.
»Graffiti«, sagte Palmira. »Damals hat er beleidigende Bilder unseres Präsidenten gemalt, der ein Hundesohn war und die Menschen um ihren Wohlstand betrog, während er in seinem Palast lauter goldene Wannen aufstellte, um im Schweiß der Arbeiter zu baden.«
»Krass«, sagte Barnaby und verzog das Gesicht.
»Das ist eine Metapher«, erklärte Palmira mit einem Achselzucken. »Das ganze Land hat diesen Mann gehasst und verachtet, aber wir hatten auch alle Angst vor ihm. Er hatte die Armee hinter sich und konnte nicht abgewählt werden. Er hat uns Steuern abgepresst, die wir unmöglich bezahlen konnten, und es war ihm egal, ob wir noch genug Geld fürs Essen hatten. Die Zeitungen wagten es nicht, ihn zu kritisieren, weil sie sonst verboten worden wären, und die Redakteure wären auf die Straße gesetzt worden. Die Schriftsteller trauten sich auch nichts. Nur dieser kleine Junge, der ja eigentlich noch ein Kind war, fand eine Möglichkeit, um zu zeigen, wie unzufrieden die Menschen mit der Regierung waren. Und mit der Malerfarbe, die er, wer weiß wo, gefunden hatte –
Weitere Kostenlose Bücher