Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Kopf und Ersticken. Außerdem gab es teilweise auf dem Hals, teilweise auf der Brust und teilweise auf der linken Schulter sonderbare Spuren: horizontal verlaufende, leicht bügelförmige Verfärbungen in der Haut mit nach unten gebogenen Rändern auf beiden Seiten, zirka 7 mm breit und begrenzt von einer kleinen Hautbrücke. Mit anderen Worten: Jemand hatte sie gebissen, mit den Vorderzähnen, kein Tier, sondern ein Mensch. Wir hatten es mit einem sadistischen Verbrechen, einem Lustmord zu tun. Die Verstorbene hatte einen ziemlich lockeren Lebenswandel geführt und pflegte Kontakte mit mehreren Männern, wie sich herausstellte. In dem Zimmer, in dem sie lag, wurde eine Brille gefunden, plus 15 und 17. Basierend auf dieser sehr seltenen Brillenstärke konnte das Verbrechen mit großer Sicherheit auf eine bestimmte Person zurückgeführt werden, einen deutschen Unteroffizier, der sie oft besucht hatte und der im Hotel Ritz gleich in der Nähe wohnte. Als wir den Tatort verließen, sagte ein Nachbar zum anderen: Sie hat gekriegt, was sie verdient hat. Ich verstand ihn. Ich verstand ihn gut. Ich drehte mich um und sagte ganz ruhig: Niemand verdient so etwas. Eine Anklage oder Gerichtsverhandlung wurde nicht eingeleitet. Der Deutsche konnte weiterhin tanzen und töten. Nicht nur Norwegen war besetzt. Ich war es auch. Meine ganze Person war besetzt. Innerhalb von fünf Jahren waren meine Kanten abgeschliffen. Es war ein Weltkrieg notwendig, um mir Manieren beizubringen. Dann merkte ich, dass hinter meinem Rücken im Rikshospital über mich geredet wurde. Ich wurde langsam, aber sicher ausgegrenzt. Ich war verdächtig. Verdächtig? Ich? Hätten sie das vor der Okkupation gesagt, dann hätte ich es verstanden, aber jetzt? Dann bekam ich endlich reinen Wein eingeschenkt. Meine runden Kanten hatten mich unaufmerksam und schlaff gemacht. Eines Abends, als ich auf dem Weg zum Skovveien war, wurde ich nämlich in einer Toreinfahrt beim Riddervolds plass von einer Frau angehalten. Sie zog mich mit sich in den Schatten. Zunächst hielt ich sie für ein leichtes Mädchen.
»Wir brauchen deine Hilfe, Bernhard.«
Es war Tora.
Sie legte mir die Hand auf den Mund.
»Hast du deine Arbeitsutensilien zu Hause?«
Ich nickte.
»Hol sie und komm dann zur Uranienborg Kirche. Schnell.«
Tora verschwand im Dunkel. Ich tat, was sie gesagt hatte, holte meine Arzttasche und alles, was ich sonst noch zur Verfügung hatte, und lief hoch nach Uranienborg. Tora war nicht da, zumindest nicht am Hauptportal. Ich ging um die Kirche herum. Ich konnte Tora nirgends entdecken. Plötzlich bekam ich Angst. War ich in eine Falle gelockt worden? Wer war Tora heute? Ich hatte sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen und wusste nichts über sie. Aber warum sollte sie mich, Bernhard Hval, in eine Falle locken? Ja, ich zweifelte. Dann hielt plötzlich jemand meine Hände auf dem Rücken fest. Ich konnte mich nicht einmal umdrehen. Eine Binde wurde mir vor die Augen gelegt, bevor ich in ein Auto geschoben wurde. Ich glaube, wir fuhren Richtung Bislet. Niemand sagte etwas. Ich fragte:
»Wo ist Tora?«
Niemand antwortete.
Ich fragte:
»Warum macht ihr das?«
»Dir selbst zuliebe. Sei still.«
»Mir selbst zuliebe?«
»Ja, je weniger du weißt, …«
Ich unterbrach den Mann, der sprach.
»… umso mehr können sie mich foltern.«
Dann waren wir angekommen. Ich wurde eine Treppe hinaufgebracht, durch Türen, einen Flur entlang. Bald hörte ich dicht neben mir ein Jammern, große Schmerzen, es roch nach verbranntem Fleisch und Blut. Während ich immer noch die Binde vor den Augen hatte, sagte dieselbe Stimme:
»Rette den Jungen.«
Als ich endlich wieder sehen konnte, stand ich in einem Schlafzimmer, allein, abgesehen von dem jammernden Jungen voller Todesangst, der im Bett lag. Sein Arm war hässlich verletzt, sehr hässlich. Eine Sprengladung war offenbar zu früh hochgegangen. Ich musste amputieren. Das sah ich sofort. Der Junge weinte und wand sich. Er rief nach seiner Mutter. Er war vielleicht siebzehn, höchstens. Er rief erneut nach seiner Mutter, keinen Namen, nur Mama. Du stirbst. Du bist siebzehn Jahre alt. Du rufst nach deiner Mutter. Seine Augen suchten nach mir, rutschten aber immer wieder weg. Ich gab ihm etwas zur Beruhigung, Morphium, und nahm auch selbst eine kleine Dosis. Wie gesagt, ich war es nicht mehr gewohnt, in lebende Menschen zu schneiden. Außerdem war das Werkzeug, das ich zur Verfügung hatte, nicht ausreichend. Der
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