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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Junge wurde ruhiger, war aber immer noch voll panischer Angst. Der Tod hatte sich für eine Weile in ihm zur Ruhe gesetzt. Jemand kam schnell und lautlos herein. Es war Tora. Sie brachte kochendes Wasser in einem Topf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie so dünn war. Sie war nicht gesund, nein, das war sie nicht, und es war nicht nur der Krieg, der an ihr gezehrt hatte.
    »Schaffst du das?«, flüsterte sie.
    »Was ist passiert?«
    »Das brauchst du nicht zu wissen.«
    »Ich meine mit dir.«
    »Denk an den Jungen«, sagte Tora.
    »Er muss in ein Krankenhaus.«
    »Das ist zu riskant.«
    »Das hier ist zu riskant. Ich kann nicht.«
    »Alles ist riskant, Bernhard. Tu es.«
    »Ich habe nichts zum Schneiden. Begreifst du nicht!«
    »Sei still!«
    Tora kam mit einem Fahrtenmesser, einem ganz gewöhnlichen norwegischen Fahrtenmesser, geeignet, um Fische auszunehmen.
    »Du kannst das benutzen.«
    Der Junge jammerte und fing wieder an, den Kopf hin und her zu werfen.
    »Halte ihn fest«, sagte ich.
    Da ich nichts Besseres hatte, schob ich ihm eine Streichholzschachtel zwischen die Zähne, damit er sich nicht in die Zunge beißen konnte. Dann desinfizierte ich das Messer und säuberte den Arm des Jungen. Es war übler, als ich zuerst angenommen hatte. Bei einer Amputation der oberen Extremität muss versucht werden, so viel wie möglich zu bewahren. Aber hier war nicht viel zu retten. Ich musste ganz hoch bis zur scapula, wo die Schäden am größten waren, und das Schlüsselbein leuchtete weiß in der zerfetzten Schulter. Es war unmöglich. Ich dachte: Niemand schafft es, dem Feind nur mit einem Arm davonzulaufen. Was hätte ich tun sollen? Ich lüge nicht. Leider habe ich schon einiges gesehen. Ich schnitt den Arm ab. Der Junge stand wie ein Bogen im Bett. Ich drückte eine gradierte Kompresse auf die Bruchwunde und konnte nach einer Weile das Blut zum Stillstand bringen. Der Junge sank zusammen. Ich nahm ihm die flachgedrückte Streichholzschachtel aus dem Mund und wusch mir die Hände.
    Der Arm war auf den Boden gefallen und lag dort mit gespreizten, kohlrabenschwarzen Fingern.
    »Wird er es schaffen?«, fragte Tora.
    »Ich lasse Verbandszeug und Desinfektionsmittel hier.«
    »Danke.«
    Erneut bekam ich eine Binde vor die Augen, und Tora brachte mich die Treppe hinunter, über einen Innenhof, wie ich annahm, und schließlich kamen wir in einer anderen Straße heraus, war das Sankthanshaugen? Sie nahm die Binde ab.
    »Warum durfte ich die anderen nicht sehen, während du dich zu erkennen gibst?«, fragte ich.
    »Weil ich nichts mehr zu verlieren habe.«
    »Was soll das heißen? Haben wir nicht alle etwas zu verlieren?«
    »Ich werde bald sterben, Bernhard.«
    »Wieso?«
    »Eine Geschwulst. Hier auf der Stirn.«
    »Mein Gott, Tora! Ich kann dir helfen. Ich kann dir …«
    Sie ergriff meine Hand und drückte sie, mit ungewöhnlicher Kraft.
    »Du musst Sigrid stoppen.«
    »Was meinst du damit?«
    »Sie geht ins Ritz. Sie mag die Deutschen zu gern.«
    »Ich sehe Sigrid nicht mehr.«
    »Es ist gefährlich für sie, Bernhard.«
    Das Einzige, was ich spürte, war ein Hauch von Eifersucht.
    Darüber redeten sie also hinter meinem Rücken, dass Bernhard Hvals Frau im Ritz mit den Offizieren tanzte.
    Ich versuchte zu lachen, äußerst unpassend.
    »Sie mag die Deutschen zu gern. Obwohl sie Tennis als olympische Disziplin gestrichen haben.«
    »Du hast dich verändert, Bernhard.«
    »Nein. Das ist nur der Krieg. Das geht sicher vorüber.«
    Tora lächelte vorsichtig.
    »Danke, dass du meinen Sohn gerettet hast.«
    Dann ließ sie meine Hand los, drehte sich um und ging, und sie drehte sich nicht wieder um. Ich hörte nie wieder von ihnen, weder von Tora noch von ihrem Sohn. Sie sind und bleiben Schatten, lebendig oder tot, manchmal möchte ich fast glauben, dass es sie nie gegeben hat, dass es nur etwas ist, was ich mir ausgedacht habe, dass sie der magere, armlose Wind zwischen den Bäumen auf dem Sankthanshaugen sind, Mutter und Sohn.
    Zu viele Gespenster in meinem Leben, es wimmelt nur so von ihnen.
    Lichtspuren durchkreuzten den Himmel. Jedes einzelne Fenster war dunkel. Die Straßen lagen leer und verlassen.
    Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen.
    Die Nachbarin stand ein Stockwerk höher parat.
    »Sie sollten nicht so spät ausgehen, Herr Doktor«, flüsterte sie.
    Ich blieb stehen.
    »Haben Sie vielleicht ein bisschen Kohle übrig?«, fragte ich.
    »Sie frieren doch nicht?«
    Eine äußerst unruhige Nacht.
    Ich

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