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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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landete auf dem Rücken in dem braunen Wasser, das sich langsam rot verfärbte. Nein, schwarz. Das Wasser wurde schwarz. Schwarzes Wasser und gelbes Laub, darin trieb Vater. Noch lange konnte ich den Widerhall hören, während Vater ruhig und zerschossen in diesem Wasser und Laub trieb. Und als erster Gedanke kam mir in den Sinn, dass ich jetzt doch nicht in dieses verfluchte Handelsgymnasium Oslo gehen musste, unten in der dreckigen Munchs gate, sondern auf die Kathedralschule Oslo in der Pilestredet. Oh, Herrlichkeit! Halleluja! Sei gepriesen! Vater hatte recht. Ich hatte frei. Ich war frei. Die Fußspuren waren tot. Das Gras erhob sich und jubelte.
    Das alte Laub bedeckte bald Vaters Gesicht.
    Ehre! Lasst alle Ehre fahren! Hat eine andere menschliche Eigenschaft je größeren Schaden verursacht als die Ehre? Ist der Ehrenhafte nicht nur ehrgeizig, ehrpusslig? Es ist die Ehre, die ehrrührig ist. Verflucht sei die Ehre, und ebenso verflucht sei das Gewissen, diese Bürden, die immer andere tragen müssen.
    Nil admirari!
    Ich wiederhole, auf Ehre und Gewissen: Nil admirari!
    Das Gewehr lag mehrere Meter entfernt.
    Und ich kann es jetzt berichten, nicht, um mein Herz zu erleichtern, dazu sehe ich keine Veranlassung, und die Ehrlichkeit ist auch nicht die Tugend, die ich als höchste schätze, ganz im Gegenteil, wie bereits angedeutet, sondern weil ich nichts zu verlieren habe: Ich löste den Schnürsenkel, der schwarz vom Pulver war, vom Abzug und versteckte ihn in meiner Jacke.
    Dann sank ich auf die Knie nieder, und Nachbarn kamen herangeeilt.
    »Vater ist gefallen!«, rief ich. »Es war ein Unfall!«
    Ich glaube, ich fiel in Ohnmacht, denn das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich mit einem Glas Wasser im Wohnzimmer saß und zwei Polizeibeamte vor mir standen.
    »Schaffst du es, ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte der eine.
    Ich nickte.
    »Du weißt, dass dein Vater tot ist?«
    Ich nickte.
    »Hast du gesehen, was passiert ist?«
    Wieder nickte ich.
    »Was ist passiert, Bernhard?«
    »Vater ist gestorben.«
    Der eine Beamte hockte sich vor mich.
    »Wie ist es passiert?«
    Ich begann mit den Zähnen zu knirschen. Ich spürte das Blut in den Mundwinkeln brennen und den Eisengeschmack am Gaumen. Hatte Vater den gleichen Geschmack gespürt? Der Beamte musste mich festhalten und zog ein Taschentuch hervor.
    »Wie ist es passiert?«, wiederholte der andere.
    »Er ist gefallen. Es war ein Unfall.«
    Da stand plötzlich Alfred da.
    »Quält den Jungen nicht«, sagte er nur.
    Ein Krankenwagen brachte Vater fort.
    Am nächsten Tag kam Mutter aus Halden zurück, ohne Signe, sicher nur um des Scheines willen. Habe ich nicht gesagt, dass sie zurückkommen wollte, wenn Vater Vernunft angenommen hatte?
    Vater hatte ein für alle Mal Vernunft angenommen.
    Wir durften ihn im Gerichtsmedizinischen Institut im Keller des Rikshospitals sehen. Ich war auch dabei. Mutter sagte, ich müsse nicht mitgehen, aber ich wollte es. Alfred fuhr uns hin und blieb im Wagen sitzen. Vater lag auf einem Zinktisch in dem kühlen, nackten Raum, mit einem weißen Laken über sich. Ganz unten, an den Füßen, war eine Art Abfluss, der zu einem Siel im Boden führte. An den Wänden hingen verschiedene Instrumente und Werkzeuge, Messer, Skalpelle, Scheren in allen Größen, Ahlen, etwas, das aussah wie ein Bohrer, und einiges, von dem ich gar nicht wusste, wie es hieß. Es lagen mehrere Leichen dort, mindestens acht, soweit schaffte ich es zu zählen. Vater war nicht ganz allein. Der Pfarrer vom Vestre Aker war auch zugegen. Der Arzt, der Gerichtsmediziner selbst, ein untersetzter Mann mit nassgekämmtem Haar, weißem Kittel und einer blasierten, gleichgültigen Miene, als würde er sich ganz schrecklich langweilen, hob das Laken hoch, so dass wir Vaters Gesicht ein letztes Mal sehen konnten. Dabei schaute dieser Rechtsmediziner meine Mutter nicht an, er sah die ganze Zeit nur mich an. Das war unangenehm. Sein Blick suchte nach etwas. Ich stellte mich hinter Mutter, die so schwer atmete, dass sie kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Der Pfarrer trat zu ihr und hielt ihre Hand, während er ein Gebet las. Ich fand, dass Vater eigentlich gar nicht so schlecht aussah, wie er dort lag. Ich hatte ihn schon schlimmer gesehen. Offenbar hatte jemand an seinem Aussehen genäht, auch wenn mit dem Mund nicht mehr viel zu machen gewesen war. Der wurde von einer Art Geschirr oder Strick an Ort und Stelle gehalten, unter dem, was vom Kinn noch übrig

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