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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und erzählten sich flüsternd untereinander, dass der gute Oscar Hval jetzt wohl den Mund zu voll genommen hatte und das bekam, was er verdiente? Er hätte bei den Nadeln bleiben sollen, ja, das hätte er, das passte besser zum Format der Familie Hval. Ich lachte nicht.
    Glaubt mir, glaubt mir keine Sekunde lang! Ich bin nachlässig, sowohl was Menschen, Begriffe als auch Begebenheiten betrifft. Ich verschiebe gern Feiertage und feiere Silvester im Februar. Es ist gegen meine Überzeugung, ja, gegen meine Natur, mich so an den Kalender zu klammern. Manchmal spielt mir auch die Erinnerung einen Streich. Ich werfe Gesicht und Geschehen durcheinander. Wenn ich zurückschaue, ist mir, als starrte ich in ein dunkles, klares Wasser, beunruhigend ruhig, in dem sich alles, was sich unter der Wasseroberfläche befand, brach und in umgekehrte Muster und Farben verschob, anders und dennoch wiedererkennbar. Vergesst nicht, ich bin ein alter Mann. Habt Erbarmen. Vielleicht gingen Sigrid und ich gar nicht genau in diesem Sommer durch den Frognerpark, vielleicht erst im folgenden Jahr. Und dieses Gokstadschiff, das durch die Hauptstraßen der Stadt segelte, vielleicht habe ich es niemals gesehen. Was soll’s! Die Schiffe kommen aus dem Dunkel und legen in unserem Licht am Kai an. Und Vigelands Skulpturen stehen immer noch dort, und sie werden noch an demselben Ort stehen und in Granit klagen, wenn die meisten von uns das Leben verlassen haben. Sie werden über Sigrid und mich klagen. Als ich jung war, sagten viele, ich wäre reif für mein Alter. Ich konnte bis zehn zählen. Als ich älter wurde, sagten ebenso viele, ich wäre unreif für mein Alter. Quatsch! Makulatur! Nach mir kann man sich nicht richten, gut möglich, ich bin in schlechter Gesellschaft, ebenfalls gut möglich, aber mich einen Schwindler, einen Scharlatan oder einen einfachen Dieb zu nennen, das kann ich nicht gutheißen. Ganz einfach: Vertraut mir nicht, vertraut nur dem, was ich erzähle:
    Nie kam ich meinem Vater näher als in dieser Zeit, aber ich kam ihm nicht wirklich nahe. Ich sah ihn nur hinter den Fenstern des Pavillons, meistens mit dem Rücken zu mir, ein einsamer, hochdekorierter Mann, der die Tür abgeschlossen hatte. Ich begriff seine Einsamkeit nicht. Niemand kann die Einsamkeit des Gestürzten begreifen. Manchmal lief er da drinnen herum, in diesem Lusthaus, das Lachen und Champagner verlassen hatten. Die Blätter fielen und legten sich auf den Garten. Der Schnee fiel und legte sich auf die gelben Blätter im Garten. Der Schnee schmolz, und ich sah, dass der Garten ungepflegt und fast nicht wiederzuerkennen war. Eines Tages, als ich heimkam, war Vater nicht im Pavillon. Hatte Vater gute Neuigkeiten? Ich hatte jedenfalls gute Neuigkeiten für ihn, immerhin. Ich war fertig mit der Mittelschule, dem Lateinzweig, der Beste meiner Klasse. Wie der Studienrat es gesagt hatte. Ich war etwas Besonderes, eine Klasse für mich. Es gibt viele Möglichkeiten, das zu zeigen. Dieses war eine. Meine Spuren standen mir deutlich vor Augen, bevor ich sie gesetzt hatte. Aber wie gesagt, mein Vater war nicht im Pavillon, und schnell lief ich ins Haus. Dort war es still auf eine andere Art und Weise als sonst. Es erinnerte mich an Hammer. Und jetzt, so viel später, erinnert es mich an das Wasser, dieses stille Wasser, das nicht gestört werden darf. Ich störe.
    »Mutter!«, rief ich.
    Niemand antwortete.
    Dann fiel mir ein, dass Mutter mit Signe nach Halden gefahren war und sich erst wieder auf Besserud zeigen wollte, wenn Vater zur Vernunft gekommen war.
    Vernunft? Auf Besserud gab es keine Vernunft mehr.
    Und warum rief ich nicht als Erstes nach Vater? Das weiß ich nicht und werde es auch nie wissen. Die Zeit erstreckt sich nicht weit genug, und der Gedanke greift auch zu kurz.
    »Vater!«, rief ich.
    Auch darauf keine Antwort.
    Da sah ich, dass der Waffenschrank offen stand, und ich warf den Schulranzen von mir.
    »Vater!«, rief ich noch einmal, so laut ich konnte.
    Im mittleren Fach fehlte eine Waffe, ein Gewehr.
    »Vater! Ich bin aufs Handelsgymnasium Oslo gekommen!«
    Und plötzlich stand er in der Tür zum Wohnzimmer. Das weiße Hemd war am Hals offen und von Schweißrändern verunstaltet. Er hatte den Orden abgenommen. Er wirkte bleich und entschlossen, hielt auf eine unbeholfene Art beide Hände auf dem Rücken.
    »Aufs Handelsgymnasium Oslo? Das ist gut«, sagte er. »Ich bin stolz auf dich.«
    »Danke.«
    »Du musst von vorn anfangen.«
    »Von vorn?

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