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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hast du das nicht gleich gesagt?«
    »Spielt das eine Rolle? Er ist doch so oder so tot.«
    »Die Wahrheit spielt eine Rolle, Bernhard. Das solltest du wissen.«
    Was versuchte dieser Mann mir beizubringen? Die Wahrheit? Ich lachte ihm direkt ins Gesicht.
    »Ich habe das nicht gesagt, weil ich wollte, dass meine Mutter glauben konnte, dass es ein Unfall war, ein Fehlschuss, ein Unglück. Ich wollte ihr nicht noch mehr wehtun.«
    »Das war schön von dir gedacht. Glaubt sie es? Dass es ein Unfall war?«
    »Nein. Meine Mutter ist nicht dumm.«
    »Wir auch nicht. Deshalb gibt es noch etwas, wonach ich dich fragen muss, jetzt, wo die Situation klarer geworden ist. Und ich hoffe, dass du mir das nicht übel nimmst. Möchtest du, dass wir deine Mutter herholen?«
    »Scheiße, nein. Was soll sie hier?«
    Der Beamte zuckte zusammen, einen Moment lang war er sprachlos, außer Gefecht gesetzt.
    Plötzlich kam mir ein Gedanke. Als die Kugel mit voller Wucht durch Vaters Kopf schoss, da musste sie doch zum Schluss irgendwo gelandet sein. Vielleicht hatte sie einen Vogel getroffen, vielleicht hatte Vater sich und einen Vogel auf einen Streich erschossen? Er hätte sogar mich treffen können. Denken Selbstmörder an so etwas?
    »Du machst eine schwierige Zeit durch«, sagte der Kommissar.
    Die Worte standen ihm nicht. Solche Worte stehen nur selten jemandem. Ich schaute zu Boden. Sein Mantelsaum war nass vom Gras.
    »Danke. Ja. Es ist schwer für uns alle. Besonders für Mutter.«
    Du verfluchte Ranunkel!
    »Trotzdem muss ich dich noch etwas fragen, denn unser Gerichtsmediziner meint, dass dein Vater es nicht hätte schaffen können, sich auf diese Art das Leben zu nehmen.«
    Jetzt verstand ich nicht mehr, worauf er hinauswollte.
    »Wieso? Ich habe es doch gesehen.«
    »Dein Vater hatte den Gewehrlauf im Mund, und wir, der Gerichtsmediziner und ich, wir meinen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass er aus eigenen Kräften hat abdrücken können, wenn es nicht etwas gegeben hat, um daran zu ziehen, zum Beispiel einen Schnürsenkel. Und deshalb ist es meine Pflicht, dich zu fragen: Hast du ihm in irgendeiner Form geholfen?«
    »Geholfen?«
    »Ja. Abzudrücken.«
    »Er hat das ganz allein geschafft. Soll ich Ihnen das auch noch zeigen?«
    »Das brauchst du nicht. Aber du hast auch nicht versucht, ihn daran zu hindern. Du standst nur da und hast zugeguckt, oder?«
    »Mein Vater war ein Mann von Ehre«, sagte ich.
    »Darf ich mal deine Hände sehen.«
    »Wozu das?«
    »Wenn dein Vater ein Mann von Ehre war, dann kannst du mir doch sicher deine Hände zeigen.«
    Ich streckte die Hände vor. Der Kommissar betrachtete sie genau, drehte sie, dass die Handflächen nach oben zeigten. Dann ließ er mich los.
    »Du hast deine Hände gut gewaschen, nachdem es passiert ist«, sagte er.
    »Ja. Das tun wir hier oben täglich.«
    »Aber die Fingernägel zu reinigen, das hast du anscheinend vergessen. Sieh sie dir an.«
    Ich hob die Hände, drehte sie erneut und musste die schmutzigen Ränder ansehen.
    »Ich habe Unkraut gezupft. Deshalb bin ich ja hier im Garten.«
    Der Kommissar lächelte, war es ein trauriges Lächeln, ja, das auch, traurig und resigniert, und lange schüttelte er den Kopf.
    »Das sind Pulverreste, Bernhard. Wo hast du den Schnürsenkel versteckt?«
    Das war nicht mehr lustig. Und was sollte ich mit einem Schnürsenkel?
    »Hier«, sagte ich.
    »Wo?«
    Ich zog Vaters Schnürsenkel aus der Tasche und gab ihn dem Kommissar.
    Warum all diese unmöglichen Umwege? Warum diese Dienstbeflissenheit? Ja, weil Vater nämlich vor gar nicht langer Zeit eine Unfallversicherung unterzeichnet hatte, die uns, das heißt Mutter und mich, finanziell absichern sollte. Habe ich etwa nicht gesagt, dass Vater ein Mann von Ehre war? Er dachte an seine Familie, bis ganz zum Schluss, ja, mit dem Gewehr im Mund hatte er noch den Blick erhoben und schaute nach vorn. Aber ich ließ ihn im letzten Moment im Stich, nein, nicht im letzten, sogar noch nach dem letzten Augenblick verriet und verpetzte ich ihn und ließ ihn im Stich, meinen eigenen Vater. Ein Sohn ohne Ehre, das war ich, der sich nicht einmal an eine Wahrheit halten kann. Übrigens galt die Versicherung nicht bei Selbstmord. Deshalb wollte Vater, dass es aussah wie ein Unfall. Nun stellte sich jedoch heraus, dass es sowieso unwichtig war, was ich gesagt hatte. Es war vollkommen gleichgültig. Denn diese Versicherungsgesellschaft war auch Konkurs gegangen, es gab nicht einen einzigen Schein mehr

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