Die Unseligen: Thriller (German Edition)
antwortete nicht. Wie ein Roboter stand sie auf und ließ sich in ihr Zimmer zurückbegleiten.
Pater David, der auf der schäbigen Matratze saß, die ihm als Bett diente, drückte seine Zigarette aus. Die Neonröhren des Hotels gegenüber blinkten und warfen einen matten Lichtschein in das Zimmer.
»Megan … «
Sie bedeutete ihm zu schweigen und brach in Tränen aus.
Spät in jener Nacht fasste Megan einen Entschluss.
Naïs hatte sich an ihre Brust gekuschelt, und beide atmeten im gleichen Rhythmus. Die Wärme dieses Kinderkörpers weckte in Megan sehr schmerzliche Erinnerungen, aber auch eine Zärtlichkeit, ähnlich der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.
»Pater, wir müssen fort von hier«, sagte sie mit lauter Stimme, den Blick auf die Decke geheftet.
Es trat eine lange Stille ein, auf die das Knistern einer Zigarette folgte.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass das unmöglich ist.«
Megan senkte das Kinn und betrachtete die schlafende Naïs. Das Mädchen schien in der heimeligen Geborgenheit ihrer Arme tief und fest zu schlafen. Megan hätte ihr gern gesagt, wie leid ihr das tat, was sie jetzt vorhatte. Sie wäre auch gern sicher gewesen, dass sie es sich eines Tages verzeihen würde.
»Ich wüsste vielleicht einen Weg … «
125
Das geräumige Büro im zweiten Stock am Quai d’Orsay bot eine unverbaute Aussicht auf die Seine. Ausflugsdampfer durchfurchten den träge dahinströmenden bronzegrünen Fluss. Eine dicht über das Wasser wehende Brise kräuselte die Oberfläche, und im Abendlicht wirkte die Stadt, als wäre sie einem Brand entgangen. Im rot tapezierten Büro des persönlichen Referenten des Ministers war es trotz der hohen Decken und der erlesenen Pracht von Zierleisten und Täfelungen stickig. Drei Computer, die auf einem langen Tisch standen, übertrugen unaufhörlich die aktuellen Nachrichten aus aller Welt – Bilder von Aufständen und Naturkatastrophen. Im hinteren Teil des Zimmers bildeten Akten- und Dokumentenstapel eine Mauer aus Papieren, die direkt einem kafkaesken Albtraum entsprungen zu sein schien. Benjamin blickte zu dem Referenten und dann erneut auf den an der Wand befestigten Flachbildschirm. Dort sah man einen von vorn gefilmten älteren Mann, der vom Schlafmangel ganz verquollene Augen hatte und in der Mitte eines heruntergekommenen Zimmers auf einem Stuhl saß. Benjamin erkannte auf Anhieb Pater David, aber er konnte sich nicht konzentrieren, weil ihm die vorangehende Videosequenz noch nachhing.
»Wann haben Sie das bekommen?«, fragte er.
»Vor drei Tagen.«
Ein neben ihm sitzender Offizier der Spezialeinheiten musterte ihn aufmerksam. Er trug eine makellose, mit Tressen besetzte Uniform und löste bei Benjamin sofort Befürchtungen aus, wie sie von Männern hervorgerufen werden, die fest davon überzeugt sind, auf der Seite des Guten zu stehen und in seinem Namen zu agieren. Zweifellos gehörte dieser zu denjenigen, die glaubten, dass es auf der Welt nur zwei Sorten von Menschen gibt – die Guten und die Bösen.
»Der Film wurde an die gleiche unabhängige Zeitung geschickt, die am 20. Oktober letzten Jahres das Kommuniqué und die Fotos erhalten hat.« Der Referent griff nach einem Blatt und setzte seine Brille auf, um es zu lesen. » Free Delta News. Offensichtlich benutzt Umaru Atocha diese Zeitung als Vermittler.«
»Haben Sie etwas herausgefunden?«
»Ja. In Anbetracht des Ortes der Entführung dachten wir, die Geiseln befänden sich irgendwo im Norden des Landes, vielleicht sogar im Niger. Aber die Analyse der Tonspur dieses Videos hat ergeben, dass sie sich in einer Stadt aufhalten.«
»In welcher Stadt?«
»Das können wir Ihnen leider nicht sagen.«
»Sagen Sie mir wenigstens, worum es bei den Verhandlungen geht.«
Der Oberst neigte sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Knie.
»Sie müssen wissen, dass diese Operation der Geheimhaltung unterliegt. Da Sie selbst Soldat gewesen sind, muss ich Ihnen nicht erklären, was das bedeutet.«
»Sie vergessen eine Kleinigkeit: Ich weiß, dass Umaru Atocha ein Mädchen in seiner Gewalt hat, das alle Symptome einer sehr seltenen Krankheit aufweist, die ökonomisch höchst interessant sein könnte. Und man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass es bei den Verhandlungen hauptsächlich um dieses Mädchen geht.«
»Wenn es so einfach wäre … «, seufzte der Referent und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Benjamin starrte die beiden Männer an.
»Ich will wissen, was Sie unternehmen wollen,
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