Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Stufe hinunter und strich mit der Hand über die Backsteine, als könnte er die Gespenster berühren, die hier spukten. »Die Bewegung wurde in den Neunzigerjahren gegründet, um das Volk und das Land der Ogoni vor dem Raubbau an den Erdölvorkommen zu schützen. Unternehmen wie Shell oder Avron verpesteten die Umwelt und scheffelten gigantische Summen Geld. Und all dies mit dem Segen der nigerianischen Regierung.« Er zeigte auf ein mit einer Schablone gezeichnetes Gesicht auf der Mauer hinter ihnen. »Kennen Sie vielleicht Ken Saro-Wiwa?«
»Den Schriftsteller?«, fragte Benjamin.
»Ja, er war der Anführer der Mosop. Für sein Engagement wurde er mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Aber 1995 hat die Polizei ihn hier festgenommen. Sie haben die Tür aufgesprengt und ihn ins Gefängnis geworfen. Der Prozess gegen ihn war eine Farce, und er wurde zusammen mit acht anderen Mitgliedern der Bewegung gehenkt. Ergebnis des Raubbaus: Zweitausend Ogoni wurden von der Armee umgebracht, ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, und etwa hunderttausend Menschen wurden vertrieben oder mussten sich ins Ausland absetzen.«
Er wischte sich die Hand an seinen Shorts trocken, lächelte und hielt sie den Ärzten hin.
»Nicholas O. Ekkipetio. Ich bin der Chefredakteur der Free Delta News. Und wer sind Sie?«
»Benjamin Dufrais.« Er gab dem Journalisten die Hand – ein kurzer, nervöser Händedruck. »Wir sind von Médecins Sans Frontières. «
Der Mann ging wortlos an ihnen vorbei und zog den Vorhang zur Seite, der die Redaktionsbüros verdeckte.
»Und was suchen Sie? Informationen über die Krankenschwester, stimmt’s?«
»Ja. Wir wissen, dass Umaru Atocha Ihre Zeitung als Vermittler benutzt.«
Der Journalist blieb stehen und hielt den Vorhang zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Sie entdeckten ein verstaubtes Loft, ähnlich jenen in den besetzten Häusern in New York, wo sich die Junkies zur Musik von Velvet Underground Trips reinzogen. In einer Ecke drehten sich Druckmaschinen in gleichbleibendem Tempo und stießen bedruckte Blätter aus, die zwei Kinder zusammenfalteten und zu kleinen Stößen aufschichteten. Der nach Süden gehende Teil des Raumes wurde von Stahlregalen eingenommen, die zum Bersten voll mit Archivunterlagen waren, und von einer Küche, die mit einem alten Campingkocher ausgestattet war.
Nicholas O. Ekkipetio bat sie, an einer langen und breiten Holzplatte, die von zwei Böcken getragen wurde, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihnen gegenüber, stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände vor seinem Mund.
»Wir wollen Umaru Atocha eine Nachricht übermitteln.«
»Und deshalb sind Sie hierhergekommen? Glauben Sie vielleicht, das würde ihn dazu bewegen, die Geiseln freizulassen?«
Der Chefredakteur konnte nur mit Mühe einen jähen Anfall von Heiterkeit unterdrücken. Die beiden Ärzte zündeten sich Zigaretten an und warteten, bis er aufhörte zu lachen, während sie nachdenklich rauchten. Benjamin winkte den beiden Jungen, die die Zeitung druckten, und der Jüngere streckte ihm die Zunge heraus, ehe er seinerseits laut auflachte. Der Arzt antwortete ihm mit einer Grimasse und zwinkerte ihm zu.
»Entschuldigen Sie … «, fuhr der Journalist fort, »aber ich bin schon lange keinen Leuten mehr begegnet, die so optimistisch sind … «
Die Herablassung, mit der ihr Gesprächspartner sie behandelte, begann Benjamin auf die Nerven zu gehen.
»Mag sein«, räumte er ein. »Aber wenn man keine andere Wahl hat, ist es immer noch besser, als das Volk aufzufordern, eine Revolution zu machen, während man sich hier versteckt und die Erben Zapatas spielt, finden Sie nicht?«
Der Chefredakteur war ins Mark getroffen, die Vene seiner rechten Schläfe trat unter der Haut hervor.
»Tut mir leid, meine Herren, aber ich glaube, unser Gespräch ist damit beendet.«
»Empfindlich?«, fragte Benjamin und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Bei gewissen Themen: ja. Und es trifft mich ganz besonders, wenn mein politisches Engagement infrage gestellt wird.«
»Wenn Sie schreiben, sind Sie witziger … «
»Für Sie, die Weißen, ist es leicht. Sie sind so fest davon überzeugt, dass man den Neger erziehen muss, dass bwana ihm erklären muss, wie man isst und sich pflegt, wie ›der gute Neger‹ für seine Freiheit kämpfen muss … « Er starrte Benjamin an. »Finden Sie das zum Lachen?«
»Nicht das, was Sie sagen, sondern die Situation … Er und ich …«, er deutete mit dem
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