Die Unseligen: Thriller (German Edition)
erhellte nur die Hälfte seines Gesichts und unterstrich den unvollkommenen Rücken seiner Nase. Der Rest seiner Gestalt verschwand, verschluckt von den Schatten. Der Anführer der MEND tastete mechanisch die Brusttasche seines Hemds ab, steckte zwei Finger hinein und zog eine kleine, mit Goldmotiven verzierte Metalldose heraus. Das Klicken des Verschlusses hallte in der gedämpften Stille wider. Er zog einen Zigarillo aus der Dose und zündete ihn an. Er atmete eine kleine weiße Rauchwolke ein. Sein Gesicht hatte einen schwermütigen Ausdruck, doch seine Augen funkelten von geradezu hypnotischer Energie. Mit seiner vom intensiven Nachdenken gerunzelten Stirn sah er einem gealterten Che Guevara ähnlich.
»Willst du, dass ich ihn abknalle?«, fragte Henry Okah.
Juli 2006
Die Geiseln
»Wenn dies hier die beste aller möglichen Welten ist,
wie sehen dann erst die anderen aus?«
Voltaire
16
Draußen ging der Regen langsam in Graupel über. Die Böen ließen die riesige französische Fahne knattern, die die Fassade schmückte. Im Norden flimmerte ein mattgelber Lichtschein, der nichts Gutes verhieß, in den oberen Stockwerken eines Gebäudes. Der Außenminister betrachtete das Spektakel und dachte an einen Notruf, auf den niemand reagieren würde. Er rührte seinen Kaffee um, zog den dampfenden Löffel heraus und hielt ihn eine Zeit lang reglos über der Tasse. Er seufzte und drehte sich zu den vier Männern um.
»Wurden diese Informationen überprüft?«, fragte er und nahm am Ende des Tisches Platz.
»Ja, Monsieur. Die beiden französischen Staatsbürger wurden in Owerri entführt. Sie haben dort im Auftrag von MSF und UNICEF medizinische Untersuchungen durchgeführt.«
Der Minister stellte seine Tasse auf der Untertasse ab und öffnete die vor ihm liegende Akte.
»Hat sich niemand dazu bekannt?«
»Nein, noch nicht.«
»Das ist nicht das erste Mal, dass die MEND westliche Bürger kidnappt«, schaltete sich einer der Berater ein. »Aber bislang hatten sie immer Bedienstete der Erdölgesellschaften im Visier. Wir wissen nicht, wieso sie diesmal Mitarbeiter einer Hilfsorganisation angegriffen haben.«
»Und was sagt die nigerianische Regierung dazu?«
»Sie versuchen, Kontakt zu den Entführern aufzunehmen, um die Situation zu klären.«
»Was wissen wir über diese beiden Ärzte?«, fragte einer der Kollegen. »Vielleicht waren sie an irgendwelchen Schiebereien beteiligt: illegaler Handel mit Medikamenten oder mit medizinischem Material. Das könnte erklären, wieso die MEND sie entführt hat.«
Der Mann zu seiner Rechten verteilte fotokopierte Akten und Fotos von Jacques Rougée und Benjamin Dufrais.
» Médecins Sans Frontières hat uns ihre Unterlagen gemailt. Benjamin Dufrais war in der Armee, bevor er zu MSF ging. Er hat Jacques Rougée in Sarajewo kennengelernt, und sie wurden Freunde.«
»Der Verfassungsschutz hat nichts über sie, aber sie graben weiter.«
»Und was ist mit ihren Familien?«, fragte der Minister.
»Nichts Auffälliges. Jacques Rougée ist verheiratet und hat einen Sohn. Er hat letztes Jahr seine Mutter verloren, und sein Vater ist im Altersheim. Er hat eine Schwester, die im Generalrat des Departements Val-d’Oise arbeitet. Dufrais ist unverheiratet. Was nicht wirklich verwunderlich ist, da er mehr Zeit auf Auslandseinsätzen verbringt als in Frankreich.«
Der Minister beugte sich über das Dokument und überflog es. Im zweiten Stock des Gebäudes am Quai d’Orsay breitete sich Schweigen aus. Er deutete auf ein Detail des Berichts.
»Was sind das für Artikel, die er geschrieben hat?«
»Als Dufrais noch in der Armee war, hat er über die Epidemiologie in Kriegszeiten recherchiert. Das Verteidigungsministerium sollte uns eine Akte zuschicken, aber wir haben sie noch nicht erhalten. Mein Gesprächspartner hat angedeutet, dass die Akte sensible Informationen enthält.«
Der Außenminister blickte von dem Dokument auf.
»Das könnte doch eine Spur sein, oder? Ich will, dass Sie das schnellstens aufklären. Wir treffen uns in einer Stunde wieder.«
»Einverstanden.«
Der Mann verstaute die Dokumente in seiner Umhängetasche und verließ das Büro. Der Minister blieb einen Moment lang nachdenklich und trommelte mit den Fingern auf den glänzenden langen Tisch. Hinter den riesigen Fenstern gingen die Laternen entlang der Uferstraßen nacheinander an, und die Lichtpunkte spiegelten sich in dem dunklen Fluss.
»Noch etwas, meine Herren?«
»Ja, die Zeugen der
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