Die Unseligen: Thriller (German Edition)
unserer Meinung gefragt?«, meldete sich einer der Krankenpfleger in der vordersten Reihe zu Wort.
»Das hat jetzt keine Priorität«, antwortete Jacques frostig. »Jetzt geht es zuerst einmal darum, dass unser Kollege durchkommt.«
Benjamin kannte Jacques gut genug, um zu wissen, wann die Gefahr bestand, dass er vor Ärger und Wut außer sich geriet – er hatte diese eigentümliche Art, mit zusammengebissenen Zähnen zu atmen, wie wenn die Luft allzu schneidend wäre.
Doch der von seinen Kollegen ermutigte Krankenpfleger legte nach: »Und der Täter? Wo ist er?«
»Im Moment wissen wir noch nicht, wer der Angreifer war … «
»Das heißt also, dass er noch immer auf freiem Fuß ist? Dass er zurückkommen kann?«, fuhr eine Krankenschwester fort.
Der Chef der Miliz ergriff das Wort und breitete die Arme in einer gekünstelten, gespreizten Weise aus.
»Machen Sie sich keine Sorgen, meine Männer und ich, wir werden ihn finden«, beteuerte er.
Georges lachte hämisch und fuhr ihn an, ohne seine Verachtung zu verhehlen.
»Und wie? Indem Sie mit Ihren Ärschen auf Ihren Stühlen kleben, wie Sie es so gut können?«
Der Chef der Miliz wich auf linkische Weise zurück. Er warf einen Blick zum Ausgang, und in seinen Augen leuchtete die Lust, mit gesenktem Kopf ins Freie zu stürmen. Megan spürte förmlich, wie elektrische Funken in der Menge knisterten.
»Und die Polizei hat nichts?«, schrie eine Stimme über den Tumult hinweg. »Keine Spur?«
Der Kommissar trat einen Schritt vor und zeigte sich in keiner Weise von der kleinen Menge beeindruckt, die sich vor ihm drängte. Er zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an und ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen.
»Wir wissen im Moment nur … «, sagte er und klappte den Verschluss des Feuerzeugs zu, »… dass ein etwa dreißigjähriger Mann von schwarzer Hautfarbe eine Patientin überfallen hat, die heute Morgen aufgenommen wurde. Ihr Kollege ist dazwischengetreten und hat ordentlich was abbekommen.«
Die Plattitüden, die der Kommissar von sich gab, wurden mit Pfiffen und Buhrufen quittiert.
»Vier Messerstiche – das nennen Sie ›ordentlich was abbekommen‹?«, rief jemand von hinten.
»›Ein etwa dreißigjähriger Mann von schwarzer Hautfarbe‹, ist das Ihre Täterbeschreibung? Wollen Sie uns verarschen?«
»Meine Männer befragen weiterhin Zeugen«, fuhr der Polizist fort. »Wir hoffen, bis morgen früh ein Phantombild zu haben.«
»Und die Patientin?«, fragte der Krankenpfleger in der vordersten Reihe. »Wissen Sie, was mit ihr passiert ist?«
Der Kommissar ließ seine Zigarette fallen und trat sie mit dem Fuß aus.
»Nein, wir haben ihre Leiche noch nicht gefunden.«
58
Benjamin klopfte an die Tür des Büros. Keine Reaktion. Er blieb eine Zeit lang davor stehen, ehe er beschloss, sie aufzumachen.
»Jacques?«
Er entdeckte die Silhouette des Einsatzleiters von MSF . Sein Gesicht lag im Dunkeln, doch betrachtete er offenbar das Lager. Jacques zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche und schien zu zögern, ehe er sich eine ansteckte.
»Nicht wirklich der Moment, um aufzuhören … «, sagte Benjamin und kam leise näher.
Jacques wandte, gedankenverloren, den Kopf in seine Richtung, und einen kurzen Moment lang schien er ihn nicht zu erkennen. Er lächelte Benjamin matt an und stand auf. Er öffnete den kleinen Kühlschrank, auf dem ein Aktenstoß lag, und hielt Benjamin, der gegenüber einer Reproduktion des Bildes »Monochrome bleu« von Yves Klein Platz nahm, ein Bier hin.
»Weißt du«, sagte Jacques, dessen Gesicht vom orangerosa Licht des Kühlschranks erhellt wurde, »ich glaube nicht, dass ich das noch durchstehen kann. Ich kann dieser Welt nicht mehr die Stirn bieten.« Jacques setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters und wartete, bis die Wörter dem Rhythmus seiner Gedanken folgten. »Alles verändert sich, Ben. Aber ich, ich passe mich nicht mehr so schnell an wie früher. Ich bin in einem Alter, in dem ich immer ein bisschen hinterherhinken werde, wie sehr ich mich auch anstrenge.«
Einen Moment lang schwiegen sie. In diesem Büro waren sie geschützt vor der Vergangenheit und vor dieser Zukunft, die, kaum dass sie vor die Tür treten würden, auf sie herabstürzen und deren Folgen sie erdrücken würden.
»Danke«, sagte Jacques schließlich.
»Danke wofür?«
»Dass du hergekommen bist.« Er seufzte und verjagte die schwarzen Wolken, die sein Bewusstsein verdüsterten. »Dieses
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