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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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mit afrikanischen Gesichtszügen erblickte.
    Der Albino starrte sie an und verschwand in dem Moment, in dem eine Schar von zerzausten, dreckigen Straßenkindern aus der Nacht auftauchte. Es waren etwa zehn Herumtreiber, in Lumpen gekleidet und barfuß, die sich zwischen den Zelten und den baufälligen Blechhütten, in denen Familien schliefen, hindurchschlängelten. Das Klirren der langen Messer, die an ihren Hüften baumelten und die sich wie die unheilvollen Glöckchen uralter Voodoo-Rituale anhörten, kündigte schon von fern ihr Kommen an.
    Der Polizist neben Megan atmete langsamer. Seine Hand umfasste den Griff seiner Waffe, und mit gespannter Aufmerksamkeit musterte er die Gespenster, die schweigend durch die Finsternis schlichen, flüchtiger noch als Schatten. Eines der Kinder bemerkte Megan und blieb stehen, um sie zu beobachten, wobei es jedoch einen gebührenden Abstand wahrte. Die Dunkelheit verschluckte die untere Hälfte seines staubbedeckten Körpers, und es schien über dem Boden zu schweben, eine umherirrende böse Seele, die einem Jenseits entflohen ist, in dem der Mensch kein Mensch ist.
    »Sie sollten zurückgehen«, riet der Polizist. »Die Nächte hier sind nicht sicher.«

60
    Megan machte einen Rundgang durch den Ruheraum und überprüfte, ob die Tür verriegelt war. Die geröteten Augen verrieten ihre Müdigkeit, und die schnelle Dusche, die sie genommen hatte, verstärkte nur dieses Gefühl, ständig am Rand der Ohnmacht zu sein. Ihr Körper oder ihr Geist oder beide ließen nicht zu, dass sie sich auf dem Bett ausstreckte. Sie hatte mit dem hölzernen Jo-Jo gespielt, aber das hatte sie nur kurzzeitig beruhigt. Bei dem bloßen Gedanken, in dem Zimmer zu schlafen, in dem der Arzt niedergestochen worden war, drehte sich ihr der Magen um, und die Angst vor Albträumen verdüsterte die Atmosphäre.
    An den mattbeigen Wänden waren noch die Scheuerspuren der Schwämme zu sehen, und die Chlorbleiche hatte den Putz an den Stellen, an denen die Blutspritzer weggewischt worden waren, leicht aufgehellt. Aber die Flecken waren nicht so gründlich entfernt worden, dass Megan hätte vergessen können, was sie gesehen hatte. Es war weder das Entsetzliche der Situation noch die Schwere der Verletzungen, sondern etwas anderes, das sie überforderte und Ängste in ihr wachrief, die sie nach dem Tod ihrer Tochter endgültig loszusein geglaubt hatte.
    »Megan?«
    Benjamin stand in der Fensteröffnung.
    »Ich habe Licht gesehen. Ich wollte mich nur überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«
    »Geht schon. Ich habe nur keine Lust, hier zu schlafen.«
    »Kommen Sie«, sagte er, »ich spendiere Ihnen eine Zigarette.«
    Auf dem menschenleeren Parkplatz rauchte sie nervös, wobei sie die Arme an die Brust drückte, als würde sie die Milde der Nacht nicht erreichen.
    Benjamin beobachtete sie schweigend aus einiger Entfernung. Er verfolgte ihre Bewegungen mit den Augen, so diskret wie möglich, aber sein Blick wandte sich niemals völlig ab.
    »Denken Sie manchmal, dass Sie nirgendwo richtig hingehören?«, fragte Megan ihn überrumpelnd.
    Benjamin fühlte sich von ihrem Blick in die Falle gelockt.
    »Ja, ständig«, sagte er schließlich.
    »Ich hatte mir viele Dinge über Afrika vorgestellt«, murmelte sie, während sie die Arme noch fester an ihre Brust drückte. »Ich dachte, mein Platz wäre hier. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
    »Ich glaube, dass manche Menschen niemals ihren Platz finden.«
    Sie nickte, ohne dass Benjamin ihren Gesichtsausdruck deuten konnte. Sie erstarrte in der Betrachtung von etwas jenseits der klaren Luft, jenseits der Modulationen des Lichts, jenseits der Zeit und des Sagbaren.
    Megan drückte ihre Zigarette aus und ging nah an ihm vorbei, so nah, dass er sich fragte, ob sie ihn gestreift hatte.
    »Gute Nacht, Doktor Dufrais.«
    »Gute Nacht, Megan.«
    Er wandte sich um, weil er sehen wollte, wie sie die Krankenstation betrat, wie sie all diese Versprechungen von süßer Sanftmut und innerem Frieden, die sie gemacht hatte, ohne es zu ahnen, mitnahm. Er beobachtete sie und registrierte jedes Detail – ihre Art zu gehen, diesen Tick, sich eine Haarsträhne hinters Ohr zu streifen, ihre Stimme, die an ein Buschfeuer und die von den Flammen freigesetzten Pflanzenaromen erinnerte –, er prägte sich alles ein, weigerte sich, zu zwinkern, aus Angst, ihm könnte auch nur ein leichtes Beben ihres Nackens entgehen.
    Als sie die Hand auf den Türflügel legte, sah er das kalte,

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