Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Stellvertreter die Befehlsgewalt. Er nahm eine Landkarte und eine Notausrüstung. Der Weg würde vermutlich lang und eintönig werden, viele Kilometer Schotterweg, und am Ziel würde er doch nur bestätigt finden, was er bereits ahnte: Naïs und Yaru Aduasanbi mussten längst weit weg von Damasak sein, irgendwo auf den Straßen. Er hatte den Befehlen, die man ihm gegeben hatte, nicht widersprochen, dabei verstand er nicht, wieso man sich an ihn wandte. Umaru Atocha hatte den Auftrag erhalten, das Kind zu finden, aber offenbar vertraute ihm die Regierung nicht länger.
Stona nahm einen Benzinkanister und stellte ihn in den Kofferraum seines Geländewagens. Sein Vorgesetzter hatte ihm versprochen, dass ihn im Kommissariat von Damasak ein detaillierter Bericht erwarten würde. Bis dahin gäbe es nur ihn, die Straße und Fragen ohne Antwort.
Er stieg gerade in den Defender ein, als mehrere laute Knallgeräusche um den Geländewagen widerhallten. Tränengaswolken trieben im Wind und erzeugten chaotische Bewegungen innerhalb der Menschenmenge. Rosa, gelbe und schwarze Schleier, die den Himmel stellenweise überzogen. In weniger als zwanzig Sekunden verschwand die gesamte Landschaft im Nebel.
Verdammnis
»Als sie über die Brücke gegangen waren,
kamen ihnen die Geister entgegen.«
Friedrich W. Murnau, Nosferatu
63
Das am Ende des 19. Jahrhunderts erbaute Hochsicherheitsgefängnis von Abuja war eine gewaltige Festung, die etwa fünfzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt inmitten einer Wüste aus scharfen Steinen und Unkraut errichtet worden war.
Die Legende erzählt, dass sich sein britischer Architekt von den Plänen Karthagos inspirieren ließ, ehe er aufgrund der schieren Größe der Baustelle den Verstand verlor. Als sich die Arbeiten ihrem Ende zuneigten, soll er dann seinen ursprünglichen Plan geändert haben, da er der Ansicht gewesen war, das Gefängnis sei weder hoch noch düster genug, um die Seelen der Sünder eingesperrt zu halten. Er war überzeugt, seine Pflicht auf Erden, seine Mission im Diesseits bestehe darin, ein Mausoleum zu erbauen, welches das Böse in sich einschließen und es daran hindern sollte, sich auszubreiten. Und dieser Wahnsinn hatte nach und nach um sich gegriffen und die Hunderte von Gefangenen angesteckt, die Tag und Nacht unter seinem Befehl gearbeitet hatten. Mit jedem verlegten Granitblock hatten sie gesehen, wie das monströse Gebäude, in dem sie für den Rest ihrer Tage vor sich hin vegetieren würden, höher wurde, und sich selbst ein wenig mehr eingeredet, durch diese Schufterei ihr Seelenheil zu erringen. Der Legende nach hat der Architekt, nachdem er das gusseiserne Gitter, das den Eingang zu diesem verfluchten Ort versperrte, hochgezogen hatte, die Gefangenen gezwungen, sich mit ihm lebendig im Fundament einzumauern. Ihre Schreie seien zehn Tage und zehn Nächte zu hören gewesen.
Henry Okah küsste den Jugendlichen in Mädchenunterwäsche auf den Mund und zwang ihn, die Lippen zu öffnen, damit er seine Zunge hineinstecken konnte. Er löste sich mit einem saugenden Geräusch von dem jungen Mann, dem er ein Raubtierlächeln schenkte. Dieser schlug sofort die Augen nieder und wischte sich den Speichel und die Schminke auf seinem Gesicht mit dem Unterarm ab.
»Jetzt, lächle schon! Ich will ein Lächeln auf deinem Gesicht sehen … «, sagte er, während er ihm durch den aufgerissenen BH in die Brustwarze kniff. »Ich verspreche dir, dass sich meine Freunde gut um dich kümmern werden. Du weißt, dass sie alles für dich tun würden, dass sie einfallsreich sind … « Sein Lächeln wurde breiter, als er den Schrecken in den Augen des Jugendlichen las. Er nahm sein Kopfkissen und seine zweimal gefaltete Decke und wandte sich den beiden Gefängniswärtern zu, die hinter den Eisenstäben der Zelle warteten.
»Wir können, die Herren.«
Der Schlüsselbund klirrte, und das Gitter glitt quietschend zur Seite, worauf Henry Okah seine ersten Schritte als freier Mann machte. Er stellte sich auf den grünen Streifen, der auf den Beton gemalt worden war, und ließ seine Halswirbel knacken. Vor ihm erstreckte sich der Gang von Trakt A, in dem sich Psychopathen, Mehrfachtäter, ausländische Söldner und politische Gefangene drängten. Die Regierung hatte gehofft, dass er, Henry Okah, hier krepieren würde; erst später war ihnen aufgegangen, dass sie ohne seine Hilfe aufgeschmissen waren.
Er atmete den Geruch des Gefängnisses tief ein und schwor sich insgeheim, dass es das
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