Die Unseligen: Thriller (German Edition)
seelenlose Zimmer, in dem sie übernachten müsste, dieses Zimmer, wo in allen Ecken Staub und Glassplitter kleine Häufchen bildeten, die er eines Tages zusammenfegen würde, wie er sich fest vorgenommen hatte.
»Ich habe Sie belogen«, rief er. »Ich meine: Ich habe Sie heute Morgen belogen.«
Megan drehte sich um und starrte ihn schweigend an.
»Sie hatten recht bezüglich der Artikel, die ich geschrieben habe. Die Epidemiologie in Kriegszeiten, die Ausbreitungswahrscheinlichkeiten verschiedener Viren, all dies. Aber mir wäre es lieber, wenn Sie das für sich behielten.« Er vertraute ihr, kurz entschlossen, seine Vergangenheit an, als wollte er ihre Neugierde wecken und durch diesen Trick dem Moment Dauer verleihen.
»Hier weiß niemand davon?«, fragte sie, während sie kehrtmachte.
»Niemand, außer Jacques. Natürlich haben einige einen Zusammenhang hergestellt, aber es schien ihnen so unwahrscheinlich, dass sie nicht nachgebohrt haben.«
»Unwahrscheinlich?«
Er lachte gezwungen, konnte damit aber kaum seine Verlegenheit kaschieren. Was konnte er ihr sagen? Dass er in den Augen der anderen zwei Seiten hatte: ein sympathisches Großmaul, wenn er getrunken hatte, und ein wortkarger Arzt, wenn er nüchtern war? Dass der erste Eindruck, den er auf andere machte, der eines Mannes am Ende seiner Kraft war?
»Publizieren Sie weiterhin?«
»Nein, ich habe nach … nach dieser Geschichte mit sämtlichen Forschungen aufgehört.«
Benjamin fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel, die Megan ihm hinhielt, und bemerkte dabei, dass seine Finger zitterten. Er knipste das Feuerzeug an und umklammerte es in seiner Faust. Er hatte sich nicht darauf vorbereitet, dieses Kapitel seines Lebens anzuschneiden. Zum letzten Mal hatte er diese Episode vor zehn Jahren erzählt, und zwar in einer Kneipe unweit der Place de la Bastille, ganz in der Nähe des Pariser Stammsitzes von MSF . Jacques und eine Flasche Wodka waren die unfreiwilligen Zeugen seines Geständnisses geworden.
»Wenn man mir gesagt hätte, dass ich Ihnen hier über den Weg laufen würde, hätte ich es nicht geglaubt«, sagte sie mit einem Lächeln.
Er bemerkte, dass um sie herum die Dunkelheit weniger dicht war, dass im Osten das Blau bereits blasser wurde und dass Aurora schon bald die Horizontlinie mit Feingold bestäuben würde.
»Darf ich Sie auf ein Glas einladen?«
»Gibt es Bars, die noch geöffnet haben?«
»Ich meinte eigentlich mein Zimmer.«
Megan deutete ein Lächeln an.
»Warum nicht?«
Dieses »Warum nicht?« sollte noch lange, sehr lange in ihm widerhallen; offen gestanden, sollten dies sogar die allerletzten Worte sein, die ihm durch den Kopf gingen, ehe ihn der Tod dahinraffte. Als die Kugel, die mit seinem Namen versehen war, seine Eingeweide zerfetzte, als das Hochgeschwindigkeitsgeschoss den Schlusspunkt unter die Erzählung seines Lebens setzte, sollte dieses »Warum nicht?« sogar noch die Reue auslöschen, die uns im Augenblick der Rückkehr ins Nichts überwältigt.
Forman Stona
»Someone nearly die. Someone just die. Police day come.
Confusion everywhere. Hey yeah!«
Fela Kuti, Sorrow, Tears and Blood
61
Die Sattelschlepper des Hilfskonvois lagen umgekippt quer über der Straße, die Reifen und die Radachsen waren gestohlen worden, der Motor auseinandergenommen. Einschusslöcher hatten die Karosserie und die Scheiben der Fahrerkabine durchsiebt. Etwa zehn Meter entfernt kokelten die herausgerissenen Sitze langsam vor sich hin, und die ringsherum züngelnden Flammen färbten den Staub rot.
Der Sergeant der Spezialkräfte näherte sich den Gerippen. Die Tanks der Lkws waren aufgerissen worden, um den Treibstoff abzuzapfen. Leere Flaschen türmten sich inmitten von aufgerissenen Kartons auf, und Patronenhülsen glänzten im Widerschein des Mondes. Der Mann zog die Flügeltüren des Sattelschleppers auf, ohne sich Illusionen zu machen.
Die gesamte Ladung war geplündert worden. Im Innern waren nur zerrissene Verpackungen, ein bisschen Mehl, das aus den Leinensäcken herausgelaufen war, und Fußspuren zurückgeblieben. Stona wusste aus Erfahrung, dass ohne Lebensmittelhilfe im Norden des Landes Unruhen ausbrechen würden.
»Wer hat den Konvoi überfallen?«, fragte er den jungen Polizisten neben ihm.
»Nach allem, was wir wissen, die Bewohner der Slums.«
»Und wo sind die Fahrer?«
»Wir wissen es nicht.«
Forman Stona ging neben dem Fahrerhaus des Lkws in die Hocke. Blutstropfen besprenkelten den Sitz und die
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