Die Unseligen: Thriller (German Edition)
letzte Mal wäre.
Im Vorübergehen grüßten ihn die Gefangenen respektvoll, einige skandierten seinen Namen und schlugen rhythmisch ihre Näpfe gegen die Stäbe. Was anfangs nur ein Murmeln war, wurde zu einem Dröhnen, und das Echo pflanzte sich von den Gängen in die Zellen fort. Schon bald sprach sich die Nachricht, dass er den Bauch des Untiers verlassen würde, wie ein Lauffeuer herum. Er spürte, wie in ihm Freude und Stolz aufstiegen, sein Herz schwellte vor neuer Kraft, als das ganze Gefängnis für ihn bebte und seinen Namen nicht bloß rief, sondern brüllte.
»Okah! Okah! Okah!«
Ein Gladiator betrat die Arena; ein Monarch musste bei seiner Krönung eine ähnliche Freude empfinden, sagte er sich mit geschwellter Brust, wobei er vom Kopf bis zu den Füßen zitterte. Er würdigte den Pöbel, der ihm zujubelte und der seine Arme durch die Gitterstäbe streckte, um ihn zu berühren, keines Blicks. Die Wärter, muskelbepackte Hünen in schwarzen Anzügen, hielten sich fern. Das schmutzige Licht der Scheinwerfer fiel durch die Glassteine der Decke und der Nordmauer und warf ein blaugraues Kaleidoskop auf den Boden, gleich Blütenblättern aus Licht, die auf seinen Weg gestreut wurden.
»Okah! Okah! Okah!«
Was hätte er sich mehr wünschen können?
Schon mit zehn Jahren hatte er gewusst, dass er nicht den anonymen Weg einschlagen würde, auf dem sich seine Eltern verirrt hatten. Sie hatten zweifellos Geld, eine angesehene gesellschaftliche Stellung, eine weiträumige und helle Villa, man schätzte ihre Gesellschaft, ihre Kultur und ihren Geschmack, die in den bürgerlichen Kreisen, in denen sie verkehrten, gerühmt wurden, aber nichts davon genügte ihm.
Ihn hungerte nach etwas anderem, und dieser Hunger verzehrte ihn, nagte an ihm, hielt ihn ganze Nächte wach, in denen er sich Momente wie diesen vorstellte.
In seiner Jugend hatte sich dieser Hunger in einen eisernen Willen verwandelt, der seine Persönlichkeit geformt, seine Intelligenz geschärft, sein Ego gestärkt hatte. Mit fünfzehn Jahren war er sich sicher gewesen, dass er anders war und dass er, aufgrund eines dieser Zufälle, die Geschichte schreiben, in der Wiege auserwählt worden war, um in der Welt seine Spuren zu hinterlassen.
»Okah! Okah! Okah!«
Er hätte sich gewünscht, sein Vater wäre da und würde Zeuge dessen, was er vollbracht hatte.
64
Die gepanzerte Tür, die den Trakt A vom Besuchszimmer trennte, fiel hinter ihnen ins Schloss.
Henry Okah beschirmte die Augen mit der Hand, um sich gegen das allzu grelle Licht der Neonröhren zu schützen.
»Hier entlang, Herr Okah.«
Die beiden Wärter bedeuteten ihm, den langen Saal zu durchqueren, in dem etwa vierzig Käfige untergebracht waren, vor denen Stühle am Boden festgeschraubt waren. Das Besuchszimmer glich einem verlassenen Zoo. Und in gewisser Weise war es dies auch. Wenn ein Strafgefangener hier mit der Frau zusammentraf, die er liebte, oder mit seinen Kindern, erinnerten ihn diese Käfige, die von den vielen Tränen, die sie benetzt hatten, ganz rostig waren, daran, dass er hier als Tier vor sich hin vegetierte.
Der Wärter bat ihn, in einen Nebenraum mit gedämpftem Licht zu gehen. Eine alte Lampe mit Schirm tauchte das Zimmer in ein orangefarbenes Dämmerlicht. Die sechs Männer, die in der Nähe der Schließfächer Karten spielten, hielten inne, als der Schatten des Häftlings auf die Scheine und Münzen in der Mitte des Tischs fiel. Okah wusste nicht, ob sie Angst vor ihm hatten oder ob sie insgeheim der Ansicht waren, es sei ein Verbrechen, welches das ganze Ausmaß der Verrottung des politischen Systems zeige, einen Mistkerl wie ihn auf freien Fuß zu setzen. Okah lächelte.
»Ihre Kleidung ist da«, sagte einer der Wärter und deutete auf eine Hose und ein Hemd, die perfekt gebügelt und zusammengelegt waren.
Schweigend warf der Anführer der MEND sein Kopfkissen und seine Decke auf die Bank und zog seinen grauen Overall aus. Als er in den Spiegel über dem Waschbecken blickte, erkannte er sich nicht wieder. Er hatte zugenommen, seine Muskeln schienen dichter, kräftiger geworden zu sein und traten unter seiner Haut hervor.
»Was bedeutet es Ihnen, frei zu sein?«
»Die Freiheit … «, sinnierte Okah, als er den Innenhof betrat. »Es sind nicht die Mauern, die sie dir wegnehmen. Die wahre Freiheit ist in deinem Kopf.«
Der Gefängniswärter sah ihn seltsam an, da er nicht wusste, ob Okah seinen Quatsch glaubte oder ob es dem unangebrachten Stolz
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