Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Okah fort und warf ihm ein Feuerzeug zu.
»Da drüben ist es echt ungemütlich, Chef … « Der Junge zog an der Zigarette und schnaubte. »Dort ist eine Frau, die Blut pinkelt, und alle schreien!«
Henry Okah ließ seinen Blick erneut zum Krankenhaus schweifen. Noch immer waren mehrere Gestalten geschäftig rings um den Wagen zugange, das war die einzige Bewegung in der ganzen Stadt.
»Hast du herausgefunden, worum ich dich gebeten hab?«, fragte er und stand auf.
»Ja, ich hab sie gesehen. Sie sind im Krankenhaus.«
»Bist du sicher?«
»Ich bin mir sicher, dass sie es sind, Chef. Der Mann und das Mädchen … Diejenigen, die du mir auf dem Foto gezeigt hast. Sie sind im ersten Stock, nahe am hintersten Fenster … «
Okah verspürte ebenso viel Erleichterung wie Aufregung. An diesem Abend wäre alles vorbei.
»Hat dich der Mann gesehen?«
»Nein … «
»Hat dich jemand anders gesehen?«
»Nein, Chef«, beteuerte der Junge und schlug unwillkürlich die Augen nieder.
»Lüg nicht.«
»Ich lüge nicht! Ich … « Die Kippe fiel ihm aus den Fingern. »Ich schwöre, dass … «
Okah näherte sich dem Jungen und baute sich drohend vor ihm auf.
»Ich frage dich ein letztes Mal. Hat dich sonst irgendjemand gesehen?«
Der Halbwüchsige wich zurück und warf einen Blick zur Tür, um die Entfernung abzuschätzen. Seine durchlöcherten Sohlen rutschten auf dem feinen Kies, der das Dach bedeckte. Aber der Mann, der ihn anstarrte, müsste nur den Arm ausstrecken, um ihm das Genick zu zermalmen, bevor er auch nur einen Schritt machen könnte.
»Die beiden Krankenschwestern … Sie haben geglaubt, ich bin ein Dieb und … «
»Und hast du ihnen gesagt, warum du da bist?«
Okahs Pranke packte seine Schulter und quetschte sie.
»Ich erklär’s dir … «, stammelte der Junge.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich meine Fragen nicht wiederhole.«
Der Junge schrie, als Henry Okah ihn zum Rand des Dachs schleuderte. Er stolperte und ruderte mit den Armen, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
»Hör auf! Hör auf«, flehte er und hielt sich mit ganzer Kraft an der Hand fest, die ihn am Kragen gepackt hatte. »Ich hab es ihnen gesagt, aber nur, damit sie mich laufen lassen!«
Okah ließ ein wenig locker. Der Junge spürte, dass er gleich fallen würde, und umklammerte mit beiden Händen das Handgelenk von Henry.
»Ich werde tun, was du willst, Chef! Ich schwör’s dir! Und ganz ohne Geld! Aber bring mich nicht um!«
Mit einer jähen Geste hob Okah den Jungen aufs Dach zurück. Der Junge brach auf dem Kies zusammen und konnte einen Moment lang nicht atmen. Henry Okah packte ihn am T-Shirt und zwang ihn dazu, wieder aufzustehen.
»Zieh Leine!«, flüsterte er ihm ins Ohr.
Okah wartete, bis er verschwunden war, ehe er sich wieder hinsetzte und seine Beobachtungen fortführte. Er sah dem Jungen nach, wie er durch die menschenleere Straße floh. Er schloss die Augen, und als er sie wieder aufmachte, war der Halbwüchsige nicht mehr da; er hatte sich zwischen den zerfallenen Häusern und den verwaisten Baustellen in Luft aufgelöst. Das Säuseln der im Wind wogenden Sträucher drang bis zu ihm, knapp gefolgt vom Plätschern des Wassers gegen die Rümpfe der Einbäume, die am Ufer festgemacht waren. In Baganako stand die Zeit still.
Er lehnte sich nach hinten und zog seine Reisetasche zu sich. Er nahm nacheinander einen schwarzen Griff aus Polyurethan, einen glatten Lauf, ein Röhrenmagazin und einen Vorderschaft heraus und legte sie geordnet auf den Kiesboden. Er riss eine Schachtel mit 70-mm-Patronen auf und verteilte die Munition überall. Der Fehler, den der Junge begangen hatte, zwang ihn dazu, seine Pläne schneller umzusetzen. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass ihm die Flüchtigen noch einmal entwischten. Er beobachtete das Krankenhaus, das Grab von Yaru Aduasanbi, und sah, wie Gestalten die Fahrtrage zur Notaufnahme schoben.
Ganz in diesen Anblick vertieft, bemerkte er nicht die Staubfahnen, die drei aus Norden kommende Fahrzeuge hinter sich herzogen. Und wenn er sein Fernglas auf den Wagen an der Spitze gerichtet hätte, dann hätte er vielleicht hinter der Windschutzscheibe das Gesicht des Albinos erkennen können.
77
Megan hielt den Atem an, als die Eingangstüren der Klinik gegen die Wände schlugen. Die Fahrtrage holperte durch den Eingang der Notaufnahme. Die darauf liegende Schwangere schrie sich die Seele aus dem Leib. Blut, viel Blut befleckte ihr Kleid auf der Höhe des Unterleibs. Der
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