Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Skalpell. Er schien kein bisschen zu zögern, als er am Unterleib einen zehn Zentimeter langen Schnitt machte. In seinem Kopf ließ er medizinische Kurse in Zeitraffer Revue passieren; er erinnerte sich in sehr klaren Rückblenden an die Methode von Starck, die er in den allgemeinen Vorlesungen über Geburtshilfe gelernt hatte. Ein ungesicherter Sprung von der Theorie ins kalte Wasser der Praxis. Die Worte, die sein Professor vor den vierhundert Studenten im Hörsaal gesprochen hatte, wurden unter seinen Händen zu einer Wirklichkeit aus Haut, Nerven und Muskeln. Mit angehaltenem Atem schnitt er die Gebärmutter auf – er selbst hätte in diesem Moment nicht sagen können, ob er völlig den Verstand verloren hatte oder, im Gegenteil, ausgesprochen verantwortungsvoll handelte – und tauchte bis zum Handgelenk in den Bauch der jungen Frau ein.
Der Kontakt mit den Organen, die diffuse Wärme, die er durch die Handschuhe spürte – all dies erschien ihm unwirklich, übersteigert.
Seine Finger berührten das Baby – zuerst seine Arme, dann seinen winzigen Oberkörper, ein verkleinertes anatomisches Modell – und packten es fest, um es aus seinem Fruchtwasserbad herauszuholen.
Der Einsatzleiter nahm es sofort an sich, und als das Kind zum allerersten Mal schrie, gab es einen Moment der Unentschlossenheit im OP , ein dem Schicksal abgetrotzter Augenblick, in dem das Ärzteteam in völliger Symbiose vor reiner Freude frohlockte, ein Glück von gnostischer Einfachheit, wo Leben und Tod zu zwei ebenso greifbaren wie absurden Wirklichkeiten wurden.
78
An der nördlichen Außenwand kletterte eine terrakottafarbene Eidechse empor und schlüpfte in eine der Spalten in der Fassade.
»Gibst du mir eine?«
Megan hielt dem jungen Arzt ihre Schachtel Zigaretten hin. Sie saßen vor der Notaufnahme und nutzten die Milde dieses frühen Vormittags, um innerlich zur Ruhe zu kommen, ehe sie wieder in den Kampf zogen.
Der alte Ford war immer noch da. Megan hielt vergeblich Ausschau nach seinem Besitzer und dachte, der Glaube dieses Missionars müsse sehr stark sein, wenn er das Auto derart weit offen stehen lasse, ohne zu fürchten, dass es geklaut würde.
Sie zog langsam an ihrer Zigarette, und ihr Blick glitt über die Straßen und den kleinen Slum, der die Krankenstation umgab. Oberhalb der Stadt sah man Ruinen ehemaliger Landwirtschaftsbetriebe, kleine Hügel aus Schutt und Eisen, die teilweise von den Dünen begraben waren. Weiter im Norden, kaum sichtbar, flirrte das Scharidelta in der Hitze – eine gigantische Lagune, in der Fischer, die von dem anhaltenden Kampf gegen Sand, Schlamm und Trockenheit zermürbt waren, mit ihren Familien vor sich hin vegetierten.
»Du hast mich beeindruckt«, sagte der Arzt, während er seine Brillengläser an seinem Oberschenkel abwischte. »Wirklich … «
»Das Gleiche kann ich von dir sagen.«
»Wenn man keine Wahl hat, muss man etwas riskieren, oder?«
»Vielleicht … «
Megan hörte das Weinen der Säuglinge, das aus der Kinderstation kam, und drückte ihre Zigarette aus.
»Wir müssen wieder rein«, sagte sie, ein müdes Lächeln auf den Lippen.
Als sie aufstand, tat es ihr der junge Arzt nicht gleich. Er kratzte sich am Kopf, als zögerte er, ein heikles Thema anzusprechen.
»Noch etwas, der Priester, der die Patientin hierhergebracht hat … «
»Pater David? Kennst du ihn?«
Der junge Mediziner nickte und setzte seine Brille wieder auf.
»Ja«, sagte er, während er auf seine Füße starrte, »mir wäre es lieb, wenn du ihn im Auge behalten würdest. Er sollte den Kindern nicht zu nahe kommen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe«, sagte Megan und setzte sich wieder.
»Es kursieren Gerüchte über diese katholische Missionsstation, in der Pater David arbeitet … «
»Was für Gerüchte?«
»Er und andere Priester führten ein Waisenhaus in der Nähe von Owerri im Nigerdelta … das Waisenhaus der Petits Frères du Peuple, wenn ich mich recht entsinne. Im Jahr 2004 hat man ihnen vorgeworfen, Kinder misshandelt zu haben.«
»Wurden sie nicht festgenommen?«, erkundigte sich Megan.
»Sagen wir, die nigerianische Regierung hat unter dem Druck der Kirche die Augen davor verschlossen. Aber die Priester mussten trotzdem das Waisenhaus aufgeben. Sie sind hierhergekommen, um eine neue katholische Missionsstation aufzubauen und … «
Er verstummte, als er den Priester aus dem Elendsviertel heraus und auf sie zukommen sah. Megan stand gleichzeitig
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