Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Schwester, eine etwa fünfzigjährige Frau aus dem Tschad, die auf einem Stuhl in einigem Abstand von den Patienten in einem Roman schmökerte.
»Sie fangen schon an?«
»Sieht ganz so aus«, antwortete Megan lächelnd.
»Einen kleinen Kaffee vielleicht?«
»Da sag ich nicht Nein … «
Während die Tschaderin die alte Kaffeemaschine für ihre Korpulenz erstaunlich gewandt bediente, erzählte sie Megan, dass sie am staatlichen Krankenhaus von N’Djamena ausgebildet worden und nach den Kämpfen zwischen den Rebellen der Einheitsfront für den Wandel und den Regierungstruppen von Idriss Déby ins benachbarte Kamerun geflohen sei. Dort habe sie verschiedenen Nichtregierungsorganisationen ihre Dienste angeboten, ehe sie hier gelandet sei, wo sie seit fünf Monaten arbeite.
Megan betrachtete die mit Kinderzeichnungen bemalten Wände, die ein buntes Fresko bildeten.
»Die haben die Kleinen aus der ernährungsmedizinischen Abteilung gemalt«, erklärte die Tschaderin, »sie zeigen dir unsere Geschichte. Denn alles, was du da siehst … « Sie seufzte, als sie die Kaffeekanne in die Hand nahm. »… glaub mir, sie haben nichts erfunden.«
Man sah viel rotes Gekritzel – Rot, das aus Gestalten emporquoll, die auf dem Boden lagen, oder das sich über die Landschaft ausbreitete, und schwarze Vögel, schlichte Haken, die am Himmel schwebten. Doch andere Zeichnungen waren heiterer, unbekümmerter und zeigten lachende Sonnen und geflügelte Fußbälle.
Die Krankenschwester hielt ihr einen glühend heißen Becher hin.
»Ich«, sagte sie, während sie sich schwer auf das Feldbett plumpsen ließ, »ich nehme ihn wie meine Männer: sehr schwarz und ohne Zucker.« Sie brach in lautes Gelächter aus und nippte an dem Kaffee. »Und du? Bist du verheiratet?«
»Geschieden«, sagte Megan und hielt ihre Hand ohne Ehering hoch.
»Wie kann ein Mann einem so hübschen Ding wie dir den Laufpass geben?«
Megan lächelte. Die gute Laune der Krankenschwester war ansteckend und brachte sie auf andere Gedanken.
»Eine komplizierte Geschichte«, gab sie zu, »so sagt man doch, oder?«
»Und seither?«
»Und seither, was?«
»Jetzt aber! Du bist doch keine Nonne, oder? Bei den Augen, die du hast, wäre es doch wirklich schade … «
Megan lachte ihrerseits.
»Nichts Ernstes.«
Sie dachte an Benjamin, befürchtete jedoch, die bloße Erwähnung ihrer gemeinsamen Nacht könnte Unglück bringen.
»Du hast recht«, meinte die Krankenschwester, »in deinem Alter muss man seine Chancen nutzen. Du hast noch Zeit genug, einen guten Ehemann zu finden. Du weißt doch, meine Liebe, jeder Topf hat seinen Deckel. So ist es nun mal, der liebe Gott hat es so gewollt.«
»Und du?«
»Ich? Ach, das schreckt ja die Männer nicht gerade ab!« Sie schob die Hände unter ihre Brüste und schüttelte sie lachend. »Im Gegenteil. Aber mit den Jahren ist man nicht mehr so mit dem Herzen dabei … «
Megan trank ihren Kaffee aus und sah auf die Wanduhr über den Zeichnungen.
»Danke«, sagte sie und stellte den Becher zurück.
»Nichts zu danken.«
75
Im ersten Stock waren die Zwischenwände eingerissen worden, um einen langen Gemeinschaftsraum zu schaffen. Durch die Fensterläden drang kaum etwas von dem Licht der Morgendämmerung. Es genügte, um Mütter zu enthüllen, die auf Matratzen lagen und in ihren Armen Kinder mit starren Blicken und abgezehrten Gliedmaßen hielten.
»Beim ersten Mal ist es hart«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Megan drehte sich um und war überrascht, einen jungen Arzt zu erblicken, der vor seinem Schreibtisch stand.
»Sie sind Megan, nicht wahr? Wir sind uns gestern Abend begegnet … «
»Ja, ich erinnere mich«, sagte sie und gab ihm die Hand. »Sie leiten die Station, in der ich arbeite.«
Mit seinem schmalen, hageren Gesicht und seinen hinter den Brillengläsern versteckten Augen glich er einer Kopie jener Gespenster, die man auf alten Klassenfotos entdeckt und von denen man nichts mehr weiß, nicht einmal ihren Vornamen.
»Als ich vor einem Jahr aus der Niederlassung von Médecins Sans Frontières in Abuja hierhergekommen bin, sollte ich diese Mission schließen. Aber an jeder Straßenecke gab es unterernährte Kinder, und da und dort lagen Kinderleichen herum. Gemeinsam mit unserem Koordinator haben wir Paris davon überzeugt, das Krankenhaus unverzüglich wieder aufzumachen … «
Der Arzt hielt ihr ein gedrucktes Blatt hin.
»Da, das ist die aktuelle Patientenliste. Wir behalten nur Risikofälle hier,
Weitere Kostenlose Bücher