Die Unseligen: Thriller (German Edition)
mit dem jungen Arzt auf.
»Willst du, dass ich mit dir komme?«, fragte der junge Arzt, als er ihr die Tür aufhielt.
»Nein, ist schon in Ordnung, ich kümmere mich darum.«
Sie musterte die Figur und das Gesicht des Mannes, der sich ihr näherte, und suchte unbewusst nach einem Anzeichen, das ihr erlauben würde, das Monster unter dem Priestergewand zu erkennen. Aber sie konnte nichts entdecken. Im Gegenteil. Seine vom Alter vertieften Gesichtszüge drückten Güte und Milde aus. Seine schmächtige, hoch aufgeschossene Gestalt wirkte zudem auf Anhieb sympathisch. Sie bemerkte, dass er einen kleinen funkelnden Gegenstand in der Hand hielt.
»Wie geht’s Haoua?«, erkundigte er sich, als er auf gleicher Höhe mit ihr war.
»Sie hat viel Blut verloren«, antwortete die Krankenschwester kühl, »aber die Ärzte sind zuversichtlich. Auch dem Kind geht es gut.«
Ein Lächeln erhellte das Gesicht des alten Mannes.
»Kann ich sie sehen, sie und das Kind?«
»Im Moment nicht. Sie muss sich ausruhen.«
»Natürlich, natürlich … .«, wiederholte er, als erinnere er sich plötzlich an den Ernst der Lage. »Ich werde warten.«
»Wir werden sie einige Tage zur Beobachtung hier behalten. Sie brauchen nicht zu bleiben.«
»Doch, mir liegt daran«, sagte er mit sorgenvoller Miene, »ich habe ihr versprochen, bei ihr zu bleiben.«
Er hielt ihr unvermittelt das seltsame Objekt hin, das er bei sich trug.
»Sehen Sie mal, was ich gekauft habe.«
Es war eine Giraffe, die aus Dosenstücken und Draht zusammengebaut und auf Rollen montiert worden war – jene Art Spielzeug, wie sie Kinder in Slums basteln.
»Das ist für den Kleinen … Wie finden Sie es?«
Er schien sie ernsthaft nach ihrer Meinung zu fragen, und sie brachte es nicht übers Herz, ihm mitzuteilen, dass das Neugeborene sich an der Giraffe schneiden oder sich damit ein Auge ausstechen könnte.
»Ich bin mir sicher, dass er Freude daran haben wird«, antwortete sie.
Die tschadische Krankenschwester unterbrach sie.
»Du musst kommen«, sagte sie, an Megan gewandt, »der Doktor schickt mich. Es gibt ein Problem auf der Station für Ernährungsmedizin.«
Ohne zu wissen, worum es sich handelte, verband sie das Wort »Problem« mit Yaru Aduasanbi und dem kleinen Mädchen, das er entführt hatte.
»Ich komme.«
Sie wandte sich zu Pater David um.
»Sie müssen abreisen.«
Er war derart überrascht, dass er zurückwich.
»Wie bitte?«
Sie hatte nicht mehr die Zeit, ihn zu schonen.
»Wir wissen, was Sie getan haben«, sagte sie frostig.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen … «
»In dieser Klinik werden Kinder behandelt, und wir können keinerlei Risiko eingehen.«
Auf diese Worte hin führte der alte Mann die Hand zu seiner Brust und ergriff das Holzkreuz um seinen Hals. Er schlug die Augen nieder, und ein Ausdruck des Schmerzes verzerrte sein Gesicht, als wäre ihm gerade ein Messer in den Leib gerammt worden.
»Es tut mir leid, aber Sie haben hier nichts mehr zu suchen.«
79
Das kleine Mädchen war allein.
Und nichts von dem, was um es herum geschah, schien es zu erreichen. Dem Fenster zugewandt, hörte es weder das Weinen der anderen Kinder noch den leisen Singsang der Mütter. Megan, die mit seiner Krankenakte in der Hand inmitten der Bettreihen stand, beobachtete das Mädchen dabei, wie es sich vor und zurück wiegte, in einer unauffälligen, kaum wahrnehmbaren Bewegung, und obwohl es seine Lippen verzog, brachte es kein Wort hervor, kam kein Laut aus seinem Mund.
Megan näherte sich behutsam; sie empfand eine ganze Reihe komplexer Gefühle – Neugierde, gemischt mit einer Art grundloser Angst. Sie fühlte sich benommen, obwohl das Blut in ihren Schläfen schneller pochte.
Vor dem Bett stieß sie mit dem Fuß gegen die zusammengeknüllte Zeitung, die Yaru Aduasanbi gelesen hatte. Tränen hatten die Druckerschwärze der Schlagzeile aufgelöst.
TOCHTER DES EHEMALIGEN MEND - CHEFS TOT AUFGEFUNDEN
Links von dem Artikel sah man ein Schwarz-Weiß-Foto der strahlend lächelnden Tochter von Yaru Aduasanbi. Sie wurde von einer jähen Empathie überwältigt. Für den Vater wie für seine Tochter.
Mit trockener Kehle setzte sie sich sachte neben Naïs. Diese beachtete sie allerdings nicht weiter.
»Erinnerst du dich an mich?«
Das Mädchen reagierte nicht, es schien isoliert in einer Blase, aus der alles andere ausgeschlossen war. Megan zögerte, ehe sie die Kleine berührte und sanft an der Schulter drückte, damit sie sich hinlegte. Das
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