Die unsichtbare Pyramide
Misstrauisch musterte sie Vicentes »tragbare Privatsphäre«: den Aluminiumkoffer.
»Was da drin ist?«, fragte sie in schauderhaftem Englisch.
»Wissenschaftliche Dokumente.«
»Bitte machen Sie den Koffer öffnen.«
Vicente wedelte mit der Hand in Franciscos Richtung. »Geh ruhig schon vor, Bruderherz. Das hier kann dauern. Wir treffen uns nachher im Warteraum.«
Normalerweise pflegte Francisco auf solche Ratschläge zu hören. Doch jetzt zögerte er.
»Bitte machen Sie den Koffer öffnen!«, wiederholte die Chinesin nachdrücklich.
Vicente legte den Koffer auf die dafür vorgesehene Ablage, stellte die Kombination der beiden Zahlenschlösser ein, drehte ihn zur Beamtin herum und klappte den Deckel hoch. Tatsächlich war der Koffer voller Dokumente.
Obenauf lag das Corpus Hermeticum, wie Francisco voller Unbehagen sah. Vicente hatte das Buch also nicht wie versprochen in Japan entsorgt. Offenbar war ihm der unwirsche Blick seines jüngeren Bruders aufgefallen, denn er drehte den Koffer noch ein Stück weiter herum, wodurch Francisco nur noch den hochgeklappten Deckel sehen konnte.
»Was das ist?«, fragte die Beamtin, nachdem sie eine Weile mit beiden Händen in den Papieren gewühlt hatte.
»Ein altes Erbstück«, antwortete Vicente.
Francisco reckte den Hals, konnte aber nicht erkennen, wovon die Rede war.
»Gemacht von Jade?«, hakte die Zöllnerin nach.
»Nein, aus Saphir.« Vicente zog ein Schriftstück aus der Innentasche des Kofferdeckels. »Hier ist ein Dokument, das mich als Eigentümer des Artefakts ausweist und dahinter hängt die beglaubigte englische Übersetzung der Urkunde.«
Die Chinesin ließ sich viel Zeit, um beide Papiere zu studieren. Francisco machte einen Schritt auf den Koffer zu. Dann noch einen. Gerade sah er darin etwas Blaues aufblitzen, als die Beamtin sagte: »In Ordnung. Beim nächsten Mal Sie melden ihr ›Erbstück‹ vor Einreise an. Dann Sie die Leute nicht halten auf. Gute Reise.«
Vicente klappte rasch den Deckel zu und hob den schweren Koffer auf, ohne die Schlösser einschnappen zu lassen. Mit dem Gepäckstück unterm Arm suchte er schnellstens das Weite. Sein Gesicht war hochrot vor Zorn. Als sich die Brüder außer Hörweite des Schalters befanden, zischte er: »Hast du das gehört? So eine Frechheit! Die tut ja gerade so, als wäre ich für die kilometerlange Schlange verantwortlich.«
Francisco lugte zu dem silbernen Behältnis hin. »Worum ging’s da eigentlich? Du hast mir dieses… Erbstück nie gezeigt.«
»Ist auch nicht der Rede wert.« Vicente versuchte das Schloss einschnappen zu lassen, aber dabei rutschte ihm plötzlich der ganze papierüberfrachtete Koffer aus den Händen und fiel laut krachend zu Boden.
Dutzende Zettel, geheftete Stapel, Magazine und Umschläge ergossen sich über den glatten Linoleumbelag. Vicente fluchte, ging in die Knie und begann seine Unterlagen hektisch zusammenzusammeln. Währenddessen konnte Francisco einen Blick auf das Erbstück im Koffer werfen, das nicht hinausgeschleudert worden war.
»Ein Dolch?«, fragte er verwundert, denn genau das lag da auf dem grauen Innenfutter: Ein blaues, etwa fünfundzwanzig Zentimeter langes, durchscheinendes Stilett, das dem Aussehen nach ganz und gar aus Saphir bestand. Es hatte einen runden Griff, aber der Querschnitt seiner nadelspitzen Klinge war unübersehbar dreieckig. Das Stück musste sehr wertvoll sein.
»Unser Vater hat ihn mir vermacht. Ich benutze ihn manchmal als Brieföffner.«
»Ist die Klinge dafür nicht ein bisschen zu dick?«
Schon hatte Vicente den Dolch unter einem Stapel Dokumente begraben. Bissig erwiderte er: »Ich habe ihn mir ja nicht extra dazu anfertigen lassen.«
»Dachtest du, ich würde Ansprüche darauf erheben, wenn ich ihn sehe?«, fragte Francisco belustigt.
»Kann schon sein.« Vicente kniete auf dem Fußboden und raffte fahrig seine restlichen Papiere zusammen.
»Keine Sorge. Ich will mich nicht an den Beutestücken jenes feinen Provinzialministers bereichern, der zufällig unser Vater war. Wegen mir kannst du…« Francisco stockte. Gerade hatte Vicente einen Stapel kleinerer Umschläge zusammengeschoben, die auf dem Boden wie ein Kartenspiel auseinander gerutscht waren. »Was sind das für Briefe?«
»Briefe halt«, erwiderte Vicente und versuchte selbige vor den Augen seines Bruders zu verbergen.
Francisco packte Vicentes Handgelenk. »Sie sind aber an mich adressiert und der Absender… Da steht C. Alvarez y Moguer. Die sind von
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