Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Fotos, die sie veröffentlichen konnten. Ich sah in den Boden gebrannte Schatten. Schwarze Körper. Einen einsamen Schuh, dort, wo einst ein Fußgänger gestanden hatte, bevor er sich in Luft aufgelöst hatte. Ich sah Landstriche voller Schutt, von dem ich vermutete, dass es einmal Wohnsiedlungen gewesen waren. Nun sahen sie eher wie gigantische, mit Kiesel bestreute Fahrbahnen aus. Sie zeigten immer nur ein paar Fotos auf einmal. Meistens sah man jammernde Gesichter, die über die Situation berichteten. Hier einige Fetzen der Gespräche, die haufenweise von meinem Aufnahmegerät aufgenommen worden sind:
»In China gab es seit Jahren Gerüchte, dass so etwas einmal passieren würde, Tom …«
»Ich sehe nicht ein, warum Amerika etwas unternehmen sollte, außer die ganze Sache öffentlich zu verurteilen, Taryn. Was macht man, wenn sich ein Land selbst zerbombt? Es gleich noch einmal zerbomben?«
»Ich bin entsetzt, wie gleichgültig sich die internationale Gemeinschaft im Angesicht dieser Katastrophe verhält, David.«
»Ich denke, das ist bloß der Anfang. Es gibt noch viele andere Städte, die China gern ‚zurück auf Anfang‘ stellen würde, um einen ihrer Euphemismen zu benutzen.«
»Mal ehrlich, Jill. Was erwarten Sie sich von einem Land, das seinen Neugeborenen eine Tätowierung verpasst?«
»Die Menschen, die Vectril produzieren, haben nun Blut an ihren Händen, Karen. Sie haben China über russische Verbindungsmänner jahrzehntelang illegal mit dem Heilmittel versorgt. Dafür gibt es mehr als genug Beweise. Ist es ein bloßer Zufall, dass es sich hier um die gleiche Firma handelt, die an der Entwicklung von TEZAC, einem Gerät zur Entfernung von Tattoos, beteiligt war? Sie haben das Bevölkerungswachstum in China unterstützt, bis sich die Regierung gezwungen sah, das hier zu tun. Das ist verrückt! Und das ist das Verrückte daran!«
Ich sah woanders hin. Ich versuchte, die Geschehnisse aus meinen Gedanken zu verdrängen, denn ich spürte, wie sich die Zugleine wieder zusammenzog. Ich hörte, wie andere zukünftige Patienten in der Triage-Station wütend wurden und begannen, am Anmeldeschalter zu fluchen. Ich sah, wie Krankenschwestern vorbeigingen und versuchten, um jeden Preis jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, wie ein Kellner, der noch nicht bereit ist, einen Tisch zu bedienen, während ihm von allen Seiten Fragen nachgebrüllt werden. Ich stellte mir vor, wie die Ärzte in diesem Krankenhaus abgeschieden hinter einer Reihe von kunstvollen Panzertüren saßen. Ich blendete das Chaos aus. Neben mir war eine kleine Broschüre zu Boden gefallen. Ich nahm sie und las sie immer und immer wieder. Nachdem der Akku meines WEPS leer war, war es das Einzige, was ich lesen konnte, die einzigen Worte, die ich anstarren konnte, um nichts von der selbst ausgelösten Verzweiflung am anderen Ende der Welt hören zu müssen – um mein Gehirn davon abzuhalten, sich daran zu erinnern, dass ich gerade jemandem beim Sterben geholfen hatte. Ich kenne den Inhalt mittlerweile auswendig.
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Versuchen Sie einmal am Tag Klaustrovia
Klaustrovia ist das erste Medikament, das gegen alle Symptome einer durch die Überbevölkerung ausgelösten Angststörung hilft:
Klaustrophobie
Ansteckungsphobie
plötzlicher Pulsanstieg
Reizbarkeit
Stress
Paranoia
Fragen Sie Ihren Arzt, ob Klaustrovia das Richtige für Sie ist. Klaustrovia ist nicht für schwangere oder stillende Frauen geeignet. Kinder unter acht Jahren sollten Klaustrovia nicht einnehmen. Wenn Sie sich haben deaktivieren lassen, Ihr tatsächliches Alter jedoch sechzig Jahre übersteigt und Sie Probleme mit Ihrer Leber haben, dann sprechen Sie mit Ihrem Arzt, bevor Sie Klaustrovia einnehmen. Als mögliche Nebenwirkungen können Schläfrigkeit, ein trockener Mund und eine Schädigung der Leber auftreten.
Polly sah, wie ich die Broschüre anstarrte. »Ich glaube nicht, dass dir das hier bei deinem Herzinfarkt behilflich sein kann.«
»Vielleicht hilft es aber bei der Wartezeit«, sagte ich.
»Es hilft dir bei gar nichts. Ich habe es versucht. Warum bist du wie ein Kollektivist angezogen?«
»Ich habe ihm die Kleider geliehen«, erklärte Ken ihr. »Sie gehören mir.«
»Warum hast du neue Kleider gebraucht?«, fragte sie. »Und warum hattest du einen Herzinfarkt?«
»Das willst du nicht wissen«, sagte ich. Ich versuchte, sie abzulenken. »Ich wusste nicht, dass du Klaustrovia genommen hast.«
»Ich habe schon sämtliche
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