Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
waschen.
Thomas stellte die Teller, das Besteck und die Gläser in die Spülmaschine. Dann sorgte er dafür, daß die Spaghetti auf der Kochplatte warm gehalten wurden. Man wußte nie, wann Elisabeth herunterkommen würde. Aber sie kam, bevor er den Kaffee gekocht und sich in den Erker gesetzt hatte. Sie trug Jeans und einen abgewetzten schwarzen Wollpullover. Er sah plötzlich, wie blaß sie war, vielleicht, weil sie nicht geschminkt war, dachte er. Sie hatte gelbe Gummihandschuhe an den Händen, die sie abstreifte und sofort in den Abfalleimer fallen ließ.
»Was ist passiert?« fragte er.
»Papa hat das ganze Bad vollgepinkelt. Er sieht nicht mehr, wohin der Strahl trifft.« Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. Früher hätte er gesagt: »So kann das nicht weitergehen.« Aber dann war sie jedesmal wütend geworden.
»Lief alles gut mit Tulla beim Friseur?« fragte er.
Sie nickte. »Ich möchte lieber etwas über deine Mutter erfahren.«
Sie nahm den Teller, den er auf dem Tisch hatte stehenlassen, und holte sich eine Portion aus dem Topf. Er sagte genau dasselbe, was er zu Annika gesagt hatte. Sie hörte ihm zu, erschöpft und doch aufmerksam, so wie er ihr zuhörte, wenn sie von der oberen Etage berichtete.
»Das muß für beide schmerzhaft sein«, sagte sie schließlich. »Willst du heute abend noch mal ins Pflegeheim?«
Er nickte. Sie kannte ihn. Er hätte ihr davon erzählen können, was in der Praxis vorgefallen war, von dem Auftritt der jungen Mutter und dem Telefongespräch mit Mildred. Obwohl, letzteres konnte er verschweigen. Sie würde natürlich darauf bestehen, daß er den Verdienstorden entgegennahm, so bedeutungslos das auch war. Er beobachtete sie insgeheim und spürte einen Druck im Magen. Line hatte recht gehabt. Sie sah wirklich kraftloser aus als gewöhnlich. Jetzt muß ich sie wegen der Mammographie fragen, dachte er. Aber wie sollte er anfangen? Sie akzeptierte ihn ja nicht als ihren Arzt. Er beschloß, einfach von sich zu erzählen. Er hielt es für geschickt, um den heißen Brei herumzureden und zu hoffen, daß sie ihn nicht durchschaute.
»Ich hatte gestern und heute einen Anfall von Herzflimmern«, sagte er und hörte, wie künstlich seine Stimme klang.
»Das ist nicht verwunderlich«, sagte sie eher uninteressiert und stocherte in den Spaghetti. Sie hatte in den letzten Wochen wenig Appetit gehabt. »Du mußt an so vieles denken, Thomas.«
»Wir werden beide älter«, sagte er und bemühte sich, natürlich zu sein. »Demnächst wird meine jährliche Vorsorge bei Janken fällig.«
»Bei dem Trottel? Noch mal?« Thomas zuckte die Schultern. Woher kam eigentlich seine Loyalität? Hatte es damit zu tun, daß man allmählich gleichgültiger wurde, sowohl in bezug auf andere Menschen als auch auf sich selbst? Daß man gerne mal beide Augen zudrückte? Daß man einander nicht mehr mit derselben Intensität und Aufmerksamkeit wahrnahm wie früher? Thomas erinnerte sich, daß er vor einigen Jahren im Herbst um einiges dicker wurde, weil er sich zuwenig bewegt hatte. Aber weder er noch Elisabeth hatten darauf geachtet. Nicht einmal, nachdem ihm die alten Hosen eindeutig zu eng geworden waren, begriff er, daß er zugenommen hatte.
Bis Elisabeth es schließlich sah und überrascht ausrief: »Aber Thomas, du bist dick geworden!« Und erst da hatte auch er es gesehen. Er war tatsächlich auffällig dick geworden. Aber wie konnten Tage und Wochen verstreichen, ohne daß er oder Elisabeth etwas merkten? Und wie konnte er übersehen, daß Elisabeth wirklich sehr erschöpft wirkte, wie sie da in den Spaghetti herumstocherte, wahrscheinlich den Kopf voll mit gewissenhafter Pflichterfüllung. Er wußte, daß sie zugesagt hatte, einige Tage bei Burlington Ltd. einzuspringen, obwohl das eine Zusatzbelastung für sie bedeutete, jetzt, wo so vieles in der oberen Etage zusammenbrach und ihr sechzigster Geburtstag sowie die Reise nach Chicago bevorstanden.
»Ja, Janken ist wirklich ein Trottel«, sagte Thomas bestätigend. »Aber er ist die bequemste Lösung. Und ich mag ihn ja in gewisser Hinsicht. Was ist mit dir?«
Sie wirkte bei seiner Frage sofort irritiert. »Ich habe doch gesagt, daß du mich nicht fragen sollst!«
»Du verzichtest also auch in diesem Jahr auf die Mammographie?«
»Nicht fragen, habe ich gesagt.« Aber dann, etwas ängstlich: »Hast du etwas gespürt?«
Er schluckte und nahm all seinen Mut zusammen. »Ich spürte vielleicht einen Knoten.«
Elisabeth war sofort klar,
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