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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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an seinem Alltag vergällt hatten. Er wagte es nicht mehr, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren, weil er immer darauf vorbereitet war, unterbrochen zu werden. Sogar jetzt war er nur halb bei der Sache und wartete auf einen Anruf vom Pflegeheim. Eine Meldung, daß sich Bergljot etwas gebrochen hatte, oder die Benachrichtigung des Pflegedienstes, daßGordon einen Herzinfarkt bekommen hatte. Und in unseren modernen Zeiten überlebte man dergleichen. So war Thomas in jeder Sekunde des Tages darauf vorbereitet, daß ein derartiges Szenario Wirklichkeit werden könnte. Die Angst um die Alten schien ihn älter zu machen, als er war.
    Wann hatte er sich das letzte Mal wirklich gefreut? Er hatte seit einiger Zeit einen ständig wiederkehrenden Traum, der mehr und mehr einem Alptraum glich. Der Traum begann damit, daß er früh am Morgen ein großes, weißes Haus verlassen wollte. Es sollte in aller Heimlichkeit geschehen, denn er mußte leise sein. Er durfte jemanden, der in der oberen Etage wohnte, nicht wecken. Aber es handelte sich weder um das Dahl- noch um das Brenner-Haus, wie er sich im wachen Zustand klarmachte. Trotzdem war es ein Haus, das er sehr gut kannte. Er wußte, daß das Auto ganz oben an der Straße stand, die in den Wald führte. Er wußte auch, daß es eine kurvenreiche Straße war, die er fahren mußte, um zur Schnellstraße zu gelangen. Erst dort würde er sich sicher fühlen. Er ließ die Haustür so leise er konnte ins Schloß fallen. Er schleppte sich mit einem schweren Koffer ab und hatte sich darauf eingestellt, ihn bis zum Auto tragen zu müssen. Im Laufe der Nacht hatte es geschneit, der Schnee war tief, und darunter war es glatt. Er kämpfte sich vorwärts, spürte eine unsägliche Erleichterung, als er die Hälfte des Weges hinauf zum Auto geschafft hatte. Aber dann hörte er plötzlich einen Laut vom Haus hinter ihm. Auf dem Schnee erschien plötzlich der Lichtschein eines Fensters. Jemand hatte ihn gesehen! Es waren gefährliche Menschen! Sie würden ihn einfangen und zurückbringen, wenn er nicht rasch das Auto erreichte und davonfuhr! Er versuchte zu laufen, aber da spürte er eine Lähmung in den Beinen, wie sie typisch für derartige Alpträume war. Er kam fast nichtvorwärts. Und jetzt wußte er, wer es war, der in dem Haus wohnte, das er verlassen wollte. Es waren Hexen und alte Gnome, aber nicht die aus den norwegischen Märchen. Es waren Rumänen, Bulgaren und Kosovo-Albaner! Sie hatten Kriege und Massaker erlebt. Sie schossen mit Maschinengewehren. Sie hatten das Haus voller Diebesgut. Sie hatten die gesamte Polizei der Stadt umgebracht. Es waren Räuber, böse und gefährliche Räuber. Und sie waren alt. Das Alter hinderte sie aber nicht daran, aus den Fenstern nach unten zu springen und ihm durch den Schnee nachzulaufen. Er merkte, wie sie näher kamen, wie sie ihn gleich fassen würden. Und er empfand eine Mischung aus Trauer und Angst. Er begann zu schreien, so wie in seiner Zeit als Assistenzarzt die junge sterbende Frau es getan hatte oder wie ein afrikanisches Gnu im Rachen des Löwen, das wußte, daß es sterben mußte.
    Und jedesmal, wenn er diesen Traum träumte, erwachte er von seinen Schreien, hörte sie wie ein Echo von den Wänden. Und er spürte Elisabeths beruhigende Hand auf der schweißnassen Stirn. »Jetzt hast du sicher wieder diesen Traum geträumt, mein Lieber?«
    Sowohl er wie auch Elisabeth waren vom Alter eingeholt worden. Durch die Pflege ihrer Eltern waren sie bereits Teil davon. Weil sie deren Sorgen übernahmen und ganz für sie da waren, weil sie für selbstverständlich hielten, was man tun mußte, ohne zu jammern. Gleichzeitig dachte er: Sie hätten es auch wie die Geschwister machen können. Sie hätten wegziehen können, um dann nicht mehr erreichbar zu sein. Sie hätten nein sagen können zu all den kleinen Einkäufen und bewußt die ständigen Ängste und Sorgen auf Abstand halten können. Die Gesellschaft hätte ihnen ermöglicht, sich abzuschotten und alles den jeweiligen Einrichtungen zu überlassen.
    Elisabeth war die erste, die sich diese Problematik bewußtgemacht und eine Wahl getroffen hatte, wenigstens, was sie betraf. Sie war zu oft in der Dritten Welt gewesen, um zu akzeptieren, daß die Alten in Heimen untergebracht werden, ohne Fürsorge der Familie. Sie war entsetzt über Freundinnen, die ihre Eltern nur einmal im Monat anriefen, die fast nie einen Besuch machten, obwohl sie wußten, daß ihre Mütter einsam in einer

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