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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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daß er die Brüste meinte.
    »In der linken oder der rechten?« sagte sie abwartend.
    »Ich erinnere mich nicht mehr«, gestand er.
    »Da kannst du mal sehen«, sagte sie plötzlich etwas nervös. »Außerdem habe ich immer Knoten gehabt. Das wird sicher auch diesmal in Ordnung gehen.«
    Er kam nicht weiter. Er sah es an ihrem Gesicht. Abweisend und distanziert. Er hatte das nie verstanden. Daß sie wie die Männer war. Die meisten von ihnen wußten nicht, welche Krankheit sie hatten oder welche Tabletten sie schluckten. Aber er konnte ihr schließlich nicht befehlen, zum Arzt zu gehen. Sein Respekt vor ihr war zu groß. Vielleicht hatte er in all diesen Jahren ihr gegenüber zuviel Rücksicht gezeigt, dachte er. War zu vorsichtig gewesen, wenn Probleme auftraten. Jetzt kam die drückende Stille, die er haßte. Sie aß weiter, war aber verärgert. In solchen Situationen fragte er sich jedesmal, was er in ihren Augen eigentlich war. Autoritär und bestimmend oder ein langweiliger Nachahmer? War er zu ängstlich und klammernd? Sein Lebensziel war es, von Elisabeth respektiert zu werden und für Line und Annika ein guter Vater zu sein. Aber manchmal, wie jetzt, überfielen ihn die Zweifel. Selbst nach all diesen Jahren hatte sie etwas Rätselhaftes. Er hatte immer das Gefühl gehabt, daß er sie mehr liebte als sie ihn. Und das hatte seine natürlichen Gründe, dachte er. Sie war viel interessanter als er. Besaß mehr Wissen. Mehr moralisches Gefühl. Dachte mehr ganzheitlich. Sie war klar und zielstrebig. Er dagegen …
    Sein Leben lang hatte er das Gefühl gehabt, jederzeit durchschaut werden zu können. Er war unsicher im Bett. Unsicher in der autoritären Rolle, die er trotz allem als Hausarzt spielte. Dabei wußte er nicht, was mit ihm nicht stimmte. Es war ein dauerndes Gefühl der Unzulänglichkeit in allen Bereichen. Hatte Annika nicht genau in der Zeit angefangen, zuzunehmen, als Elisabeth in Rußland und er allein mit den Kindern war? Hatte nicht er, überdies als Arzt, die Verantwortung dafür, daß sie dick wurde und allmählich extrem übergewichtig?
    Andererseits: Warum sagte Elisabeth nichts? Warumunternahm sie nichts, wenn sie längere Zeit zu Hause war? Daran merkte er, daß sie ebensowenig wie er imstande war, zur Tochter nein zu sagen. Wenn sich Annika die Butter dick aufs Brot schmierte, protestierte keiner von ihnen. Erwartete sie, daß er eingriff, weil er meistens mit ihr zu Hause war? Er wußte es nicht. Die Angelegenheit wurde nie problematisiert. Die Tochter legte fünfzig Kilo zu, ohne daß die Eltern darüber redeten, höchstens ausnahmsweise, wenn sie beide zuviel Wein getrunken hatten und pathetisch wurden: »Jetzt müssen wir aber endlich etwas mit Annika machen!« Aber sie machten nie etwas. Und Annika nahm weiter an Gewicht zu.
    Im nachhinein sah Thomas Brenner ein, daß es befremdlich wirken mußte. Zwei wohlhabende Eltern, beide aus reichem Haus am Holmenkollen, erwiesen sich als ebenso hilflos der negativen Entwicklung ihres Kindes gegenüber wie die, die über weit weniger Geld oder Freizeit verfügten. Daß einige der Jungen aus der Nachbarschaft drogenabhängig oder kriminell wurden, war ein magerer Trost. Annika wurde trotzdem fetter und fetter.
    Thomas empfand das als einen ständigen, unausgesprochenen Vorwurf. Sie mußte ihn ja kritisieren, ihn, der Arzt war, daß er es nicht schaffte, das Gewicht seiner Tochter unter Kontrolle zu halten. Aber Elisabeth hatte auch nichts gemacht! Und sie waren bei weitem nicht die einzigen, die ihr Kind vernachlässigten. Er erlebte es täglich in seiner Praxis; Eltern, die mit ihren hoffnungslosen, schwerfälligen, passiven und übergewichtigen Sprößlingen ankamen, Siebzehnjährige, die zuckerkrank geworden waren, kettenrauchende Teenager mit Asthma, mit Cholesterinwerten weit über dem Normalen. Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen, solange er und Elisabeth in ihrer Erziehung keinerlei Erfolge vorweisen konnten.
    Diese abendländische Kultur, zu der er gehörte, war ihm mehr und mehr ein Rätsel. Erst vor einigen Tagen hatte er in der Zeitung einen Artikel über Jean-Paul Sartre gelesen, geschrieben von einem jungen und enthusiastischen Menschen. Er hatte die Lebenseinstellung dieses Mannes, der das Denken ganz Europas geprägt hatte, übernommen.
    Aber dann hatte sich Thomas Brenner eine Fotografie von Sartre und Beauvoir angesehen, die sie in ihrem geliebten Stammlokal Café de Flore zeigte, umgeben von jungen, aufgeschlossenen

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