Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Studenten mit vertrauensvollen Gesichtern und lebendigen Augen. Und wie sahen die beiden Weltberühmtheiten aus? Wie Monster, hatte er gedacht. Wie lächelnde Monster. Und das nicht nur, weil sie längst die jugendliche Schönheit verloren hatten und ihre Gesichter voller Falten und Runzeln waren. Nein, es war, weil sie so absolut selbstsicher wirkten, wie sie dort saßen. Selbstsicher und selbstzufrieden. Extrem unreflektiert überzeugt von dem, was sie in ihrem Leben erreicht hatten. Und der Schreiber des Artikels machte auch nicht den geringsten Versuch, ihre Bedeutung in Frage zu stellen. Er erwähnte nicht einmal Sartres Zerwürfnis mit Camus.
Was für ein Vorbild war dagegen Camus! dachte Thomas Brenner. Auch wenn er nicht mit Gallimard an einem Wintertag in Südfrankreich gegen den Baum gefahren wäre, hätte er sich doch nie zu einem Monster entwickelt. Er hätte niemals derart entlarvend schmierig und vielsagend gelächelt wie Sartre auf dem fatalen Bild in dem Café. Dieses Foto brachte ein echtes Problem unserer Kultur zum Ausdruck. Viele unserer Berühmtheiten waren nicht mehr imstande, ihre Bedeutung in Frage zu stellen. Diese Haltung setzte sich fort vom Café de Flore in den sechziger Jahren zur Downing Street und zum Weißen Haus in diesem Jahrtausend und bis in eine Arztpraxis in Oslo. Menschen, die die Fähigkeit verloren hatten, Bescheidenheit zu zeigen. Während Millionen, ja Milliarden von Menschen auf der Welt das täglich machten, Verlierer, noch zu Lebzeiten übersehen, ausgenutzt und vergessen.
Ja, hatte Thomas Brenner gedacht, überleben war nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern des Frechsten. Und dieses Naturgesetz hatte auch die Wirtschaft infiziert. Moralisch gesehen waren die Mittelfeldspieler teilweise verkommen, die Milliardäre waren es gänzlich. Sie waren ein lebendiges Beispiel für Achtlosigkeit, weil sich all ihre Achtsamkeit auf das eigene Ego und die eigenen Unternehmungen richteten.
Aber Elisabeth war doch nicht so! dachte er, während dieses abweisenden Schweigens, das durch seine Erwähnung des Knotens entstanden war. Sie war selbstkritisch und offen für Ratschläge, sie war empathisch und achtsam. Warum war es dann nicht möglich, über etwas zu sprechen, das für ihn wichtig war und das für sie ebenso wichtig sein sollte? Er war verzweifelt. Sie mußte es begriffen haben, denn sie beugte sich vor und strich ihm über den Kopf.
»Du hast jeden Tag an so vieles zu denken, Thomas«, sagte sie. »Ich weiß, daß du es gut meinst. Aber mach dir meinetwegen keine Sorgen. Mir geht es gut, und ich freue mich sehr auf Chicago.«
Ja, Chicago kam näher. Die Aussicht auf diese Reise war entscheidend dafür gewesen, daß Elisabeth der großen Geburtstagsfeier zugestimmt hatte. Er hatte einige Bedingungen gestellt, eifrig unterstützt von den Töchtern. Es war für alle ein Triumph gewesen, als sie endlich nachgab und Thomas mit der Planung sowohl des Festes wie der Reise anfangen konnte. Elisabeth hatte sich schnell in beide Projekte hineingefunden. Sobald sie gemerkt hatte, daß keinEntrinnen möglich war, machte sie sich auf die Suche nach alten, fast vergessenen Schulfreunden, und Thomas freute sich, daß sie jetzt bereit war, diese Menschen wieder in ihr Leben zu lassen.
Er sah, wie sie auflebte, eine Vitalität bekam, die sie nicht einmal in ihren besten Zeiten bei Telenor gehabt hatte. Auch die Töchter feuerten sie an, schrieben Gästelisten und prüften die verschiedenen Menüs, die zur Auswahl standen, legten das Repertoire fest, das die beiden Musiker, ein Pianist und ein Bassist, spielen sollten.
Alle halfen sie ihr beim Schreiben der Einladungen und dem Aufkleben der Briefmarken. Thomas Brenner war überzeugt, daß das Elisabeth gefiel, obwohl ihr etwas flau wurde, als sie sah, wie viele schließlich eingeladen waren, über fünfzig Personen. Aber mit der Zeit wich die Ambivalenz, und es entstand eine leicht erstaunte Freude darüber, daß diese Veranstaltung tatsächlich stattfinden würde.
Allerdings waren sowohl sie wie Thomas nicht frei von Befürchtungen, was die Alten betraf. Jederzeit konnte jemand ernsthaft krank werden. Ein plötzlicher Anruf konnte sowohl das Fest wie die Chicagoreise zunichte machen. Das waren unberechenbare Ereignisse. Im besten Falle fand sich eine Regelung, im schlimmsten Fall saßen sie an einem Krankenbett oder bereiteten ein Begräbnis vor.
Diese ständigen Befürchtungen waren es, die Thomas im Laufe der Jahre die Freude
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