Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Vorstadtwohnung lebten, daß ihre Väter nie rauskamen für eine Wanderung, obwohl sie noch rührig waren. Sie hatte gesehen, wie die Alten in den armen Ländern immer dazugehörten, wie sie mit den Kindern und Enkeln zusammensaßen und ganz anders geachtet wurden als in diesem Teil der Welt. Es kam deshalb nicht in Frage, aus dem Dahl-Haus auszuziehen und sich von Tulla und Kaare zu distanzieren. Sie verachtete ihre Geschwister, die sich fast nie meldeten, war aber nicht böse auf sie, nur resigniert, daß alles an ihr hängenblieb, daß sie wegen der Eltern eine ihr Leben grundsätzlich bestimmende Wahl treffen mußte, eine Wahl, die auch Thomas Brenner nicht erspart blieb. Daß sie das zusammen machten, hatte bisher ihre Beziehung gestärkt. Sie dachten gleich und planten gleich, mußten aber auch einsehen, daß ihre gemeinsame Zeit begrenzt war. Das Gespräch am Küchentisch, das wichtig gewesen wäre, endete damit, daß Thomas auf die Uhr schaute und Elisabeth sagen hörte, bevor er es selbst sagte: »Mußt du noch ins Pflegeheim?« Er lächelte und nickte. »Ja, ich muß nachsehen, wie Mutter zurechtkommt.«
»Das verstehe ich. Besorg doch auf dem Rückweg einen Liter Milch. Mama sagte, sie brauche noch welche.«
Er stand auf. Sie stand auch auf. Für einen Augenblick nahmen sie sich in den Arm. Keiner wollte zulassen, daß eine Mißstimmung andauerte.
»Ich sollte dich eigentlich begleiten«, sagte sie.
»Ein andermal«, sagte er liebevoll und küßte ihren Hals. »Vorläufig ist Mutter mehr als genug damit beschäftigt, mit all dem Neuen klarzukommen.«
Sie nickte. Er ging in den Flur und rief Annika ein »Mach’s gut« zu, das sie erwiderte. Dann schlüpfte er in den Mantel und ging hinaus in den dunklen Oktoberabend. Die Straßenbeleuchtung brannte bereits. Ihm war, als könnte das Gefühl der Lähmung auch im wachen Zustand auftreten. Wie ein Hypochonder fing er jetzt schon an, viel mehr auf seine körperliche Befindlichkeit zu achten als früher. Er las inzwischen auch immer mehr über frühe MS und ALS -Symptome, ohne daß die geringste Veranlassung bestand, sich mit dieser traurigen Materie zu befassen.
Er setzte sich in den Volvo, ließ die Tür offenstehen, während er den Motor startete. Die frische Herbstluft war wie ein Erwachen. Diese klare, farbintensive Jahreszeit verband er in sentimentalen Momenten gerne mit seinem eigenen Alter.
Er hatte gehofft, daß seine Jahre mit fünfzig und sechzig kraftvoll und energiegeladen sein würden, so wie er den Herbst immer empfunden hatte. Die beste Jahreszeit, sich neue Aufgaben vorzunehmen. Er wußte, daß es auch bei Elisabeth so war. Tulla und Kaare und seine Eltern, so dachte er entsprechend dieser banalen Symbolik, waren in die Winterphase eingetreten. Aber auch die hatte schließlich schöne Seiten. So konnte man es jedenfalls aus dem Mund eines Priesters im Wort zum Sonntag hören.
Sogar eine derartige Salbaderei vermochte ihn nun zu beeindrucken. Er blieb vor dem Fernseher sitzen und hörte zu, häufig zusammen mit Annika, während Elisabeth noch bei Tulla und Kaare beschäftigt war. Und auch wenn dieTochter nur ironische Kommentare hatte, merkte Thomas Brenner, daß ihn die Botschaft des Kirchenmannes erreichte. So hatte auch das abgegriffene Bild der Jahreszeiten seine Wirkung gezeigt.
Er dachte ja tatsächlich an Winter, wenn er seine alten Eltern oder Schwiegereltern vor sich sah oder all die toten Menschen, denen er von Berufs wegen die Augen hatte schließen müssen. Und er dachte an Frühling und inzwischen Sommer, wenn er seine Töchter sah. Ebenso dachte er an Herbst, wenn er sich im Spiegel sah oder Elisabeth gegenübersaß, wie eben jetzt. Früher hätte er sich über diese Sichtweise amüsiert, jetzt konnte er sie verstehen. Denn es traf ja zu! Er dachte an die Jahreszeiten, wenn er über das Alter nachgrübelte. Und damit hatte das Banale gewissermaßen sein Leben infiziert. Er konnte sich dagegen nicht mehr wehren. Und warum sollte er auch? Nicht einmal Beauvoir und Sartre hatten etwas vorzuweisen, wenn der Ernst des Lebens an die Tür pochte. Alle Biographien über sie hatten ein beinahe haarsträubendes Mißverhältnis zwischen ihrer Gedankenwelt und ihrem gelebten Leben gezeigt.
Und so, wie die Gesellschaft des neuen Jahrtausends sich darbot, gab es immer mehr Intellektuelle, die im Fernsehen vor laufender Kamera weinten, sei es, weil sie bald sterben würden, oder sei es, weil sie in irgendeiner Sache verloren hatten. All
Weitere Kostenlose Bücher