Die Untoten von Veridon: Roman (German Edition)
ausgerechnet an der Stelle fallen gelassen, von der aus ein Feuer sich wahrscheinlich nicht über den Rest des Hauses ausbreiten würde.«
»Wenn jemand – und ich gehe davon aus, dass wir hier über Cranich reden – wenn Cranich also seine Spuren verwischen wollte, warum hat er den Schuppen nicht einfach niedergebrannt?«
Wilson beobachtete mich etliche Herzschläge lang, obwohl ich nicht glaube, dass er mich dabei wirklich sah. Schließlich stand er auf und ging zum Tisch. Mit seinen langen, vielgliedrigen Fingern zupfte er etwas zwischen den Kerzen hervor und hielt es mir hin. Cranichs Brille, sorgfältig zusammengeklappt und versteckt.
»Weil er erwartet hat, dass jemand vorbeikommen würde. Weil er wollte, dass wir das Haus durchsuchen.«
Ich verzog das Gesicht. Das gefiel mir nicht. Es missfiel mir, an der Nase herumgeführt zu werden und ein Teil des Spiels eines anderen zu sein. Es gefiel mir nicht, dass jemand mit mir spielte. Ich nahm die Brille von Wilson entgegen. Sie war erstaunlich leicht, die Fassung unglaublich zart. Die Linsen waren sehr dünn. Ich hielt sie mir vors Gesicht. Keine Verzerrung. Eine falsche Brille, eine Attrappe. Nur ein Theaterrequisit. Ich ließ sie auf den Boden fallen und trat mit dem Stiefel darauf.
»Ich würde sagen, dann suchen wir mal«, schlug ich vor.
Kapitel 4
EINE SCHWARZE MASKE MIT WORTEN AUS EISEN IM GESICHT
Nach meinem ersten Besuch in diesem Haus war ich nervös gewesen. Ich hatte es mit dem Eindruck eines Hauses voller dunkler Räume verlassen, Räume, die voll von stummen Menschen oder völlig leer sein konnten. Es war ein Haus seltsamer Geräusche, zugleich jedoch beunruhigend still. Das hatte sich geändert, und nicht zum Guten. Als ich mich nun durch das Haus bewegte, hatte ich das Gefühl, mit einem Toten in einem Zimmer zu sitzen. Kein Laut, und gerade wegen der vollkommenen Stille umso unerträglicher.
Im Erdgeschoss gab es nicht viel. Die Räume hinter den Türen im Gang präsentierten sich leer. Es gab darin nicht mal Staub, den wir hätten aufwirbeln können. Offenbar gehörte Cranich zu den ordnungsliebenden Verbrechern. Abgesehen von den Requisiten im Vorraum, im Gang und in dem Zimmer mit dem Kamin stießen wir auf keinen einzigen persönlichen Gegenstand. Das gesamte Erdgeschoss hätte verwaist gewesen sein können, als wir unser Treffen mit Cranich hatten. Ich begann schon zu glauben, die ganze Sache wäre eine Falle, bis wir die Treppe fanden und nach oben gingen. Oben waren die Dinge anders.
Es schien sich gar nicht mehr um dasselbe Haus zu handeln. Alles war weiß ausgemalt, von den Wänden bis zur Decke. Sogar den Boden überzog eine dicke, klebrige Schicht weißer Farbe. Die Treppe mündete in einen zentralen Raum, den acht Türen säumten. An sechs davon befanden sich schwere Vorhängeschlösser, die offen hingen. Die beiden Türen ohne Schlösser lagen an gegenüberliegenden Seiten des Raums. Eine Ecke war übersät mit Kinderspielzeug. Wilson ging geradewegs darauf zu und durchstöberte das Spielzeug mit ungeteilter Aufmerksamkeit.
»Alles zerbrochen«, stellte er mit klinischer Nüchternheit fest. »Manches davon auf ziemlich einfallsreiche Weise. Denkst du, Cranich hatte hier oben ein Kind?«
»Nein. Ich denke, das Spielzeug war für ihn selbst, Wilson.« Ich schlich zu einer der Türen ohne Schloss und legte das Ohr daran. Stille. »Woher, zum Geier, soll ich das wissen?«
»Willst du nicht zuerst in den Räumen mit den Vorhängeschlössern nachsehen?«, fragte er.
»Die sind offensichtlich leer. Hoffentlich. Sie sind hoffentlich leer.« Schulterzuckend nickte ich zu der Tür, neben der ich stand. »Komm.«
Wilson legte die Spielsachen zurück und stellte sich hinter mich. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Dahinter befand sich ein Schlafzimmer oder etwas, das wie ein Schlafzimmer anmutete. Jedenfalls ein Zimmer mit einem Bett. Einem Bett, einer Kommode und zwei Reisetruhen, wie man sie auf eine Kreuzfahrt mitnehmen würde. Die Deckel besaßen Messingbeschläge, das Holz wies starke Gebrauchsspuren auf. Das Bett bestand aus einem Eisengestell mit einer dünnen Matratze und armseligen Decken. Es war das billigste Möbelstück, das wir bislang im Haus gesehen hatten. Während im Rest des Hauses geradezu penible Ordnung herrschte, waren die Laken auf dem Bett zerknüllt und fleckig, so als beherbergten sie Nacht für Nacht einen Wahnsinnigen und dessen Albträume. Kissen gab es keine. Die Schubladen der Kommode waren
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