Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
heißen, daß ich nicht der richtige Mann für dich bin und daß du mich nicht mehr liebst? Oder hast du mich vielleicht nie geliebt?«
»Ich liebe dich, Carlo, selbst wenn du mich so wie jetzt mit diesem inquisitorischen Blick anschaust, ich liebe und schätze dich. Wir harmonieren einfach körperlich nicht miteinander. Oder vielleicht habe ich die Faszination, die du bei unseren Gesprächen auf mich ausgeübt hast und immer noch ausübst, mit Liebe verwechselt. Esist schwer zu erklären, aber in den letzten Wochen habe ich begonnen, dieses vielgebrauchte Wort, über das wir so wenig wissen, zu verstehen.«
»Alles nur Ausreden! Du bist immer noch in diesen Mann verliebt!«
»Nein, nicht in diesen Mann, Carlo, aber in den Einklang unserer Körper, wenn wir uns geliebt haben.«
»Du wirst vulgär, Modesta.«
»Für dich ist jede Wahrheit vulgär.«
»O Gott, ich kann nicht mehr. Entweder gehe ich jetzt, oder ich bringe dich um! Ich bringe dich um! Aber wir reden noch darüber.«
47
Während Beatrices Genesung
»Nein, es hat keinen Zweck, daß du vor mir davonläufst!«
»Ich laufe nicht davon, Carlo!«
»Natürlich tust du das! Aber wir müssen miteinander reden, vor allem, weil du früher immer reden wolltest, statt mich so zu lieben, wie ich dich geliebt habe.«
»Und wie hätte ich dich lieben sollen, Carlo? Als stumme Statue, die du anbeten kannst?«
»Aber die Liebe ist Geheimnis, Stille. Ich habe dich still angebetet. Tagelang war ich glücklich, wenn ich dich nur angeschaut habe. Ich brauchte keine Worte. Die Liebe ist ein Wunder und als solches …«
»Die Liebe ist kein Wunder, Carlo, sie ist eine Kunst, ein Handwerk, eine Übung des Geistes und der Sinne wie jede andere auch. Als ob man ein Instrument spielt, tanzt oder einen Tisch zimmert.«
»Du meinst den Sex.«
»Ist denn Liebe nicht Sex? Sex ist das Kind der Liebe und umgekehrt. Was ist Liebe ohne Sex? Eine Statuen-, eine Madonnenverehrung. Und Sex ohne Liebe? Eine Schlacht der Genitalien, nichts weiter.«
»Also verneinst du das immaterielle Wesen der Liebe? Verneinst ihre Spontaneität und die Tatsache, daß sie je spontaner, um so authentischer, reiner und wunderbarer ist?«
»Du klingst schon wie deine Genossen aus Catania, Carlo: ›Die Askese des russischen Volkes, die Heiligkeit der Arbeiterklasse, das Martyrium des Proletariats, die Natur als Gott, der Künstler als Gott‹. Wie ist das möglich?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Sehr viel, denn bei deinen Genossen habe ich nur schlecht verborgenes Streben nach Heiligkeit und Berufung zum Martyrium gefunden. Oder aber ein verbissenes Dogma, um die Angst vor der Suche, dem Experiment, der Entdeckung und der Unbeständigkeit des Lebens zu verbergen. Wenn du es genau wissen willst, habe ich nichts gefunden, das der Freiheit des Materialismus gleicht. Und ja, ich bin geflohen, denn ich will nicht in eine noch gefährlichere Falle geraten als die der Kirche, aus der ich mich befreit habe.«
»Aber Modesta, weißt du, was du da sagst? Du sprichst denen, die für die Belange des Proletariats und für eine bessere Gesellschaft ohne Klassenunterschiede und Ausbeutung kämpfen, Opfer und Verzicht ab. Ohne …«
»Ich spreche keinem etwas ab, sondern kritisiere eine Geisteshaltung, die sich zuwenig von der zu bekämpfenden der alten Welt unterscheidet! Wenn man so denkt wie ihr, dann schafft man bestenfalls eine Gesellschaft, die ein Abbild, und überdies ein schlechtes, der alten christlichen, bürgerlichen Gesellschaft ist.«
»Aber für einen tiefgreifenden Wandel braucht man Zeit. Erst einmal müssen mit der Revolution das Bürgertum gestürzt und die Produktionsverhältnisse verändert werden. Der Rest kommt dann von allein, weil der von der bürgerlichen Ideologie geschaffene Überbau wegbricht … Aber eigentlich wollte ich über uns reden. Ich verstehe nicht, was diese theoretische Diskussion mit uns zu tun hat. Darüber sprechen wir noch.«
Und während wir darüber sprachen und ich mir tausenderlei Anschuldigungen anhörte – wie grausam, kalt und rational ich sei, wie unverdient ich geliebt worden und wie heilig und geheimnisvoll die Liebe sei –, merkte ich auf einmal, daß ich nicht mehr zuhörte. Ich starrte seine Hände an, die meine Knie umklammerten, und dachte an all die zukünftigen Diskussionen, die ich, wenn ich nur lange genug lebte, mit Alberto, Giovanni und Michel führen würde … Michel mit den smaragdgrünen Augen. Diskussionen, die genau so noch zehn,
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