Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Eriprandos Schreie und zwang mich hinter eine unüberwindbare Mauer des Wartens. Oder waren es immer noch die schlüpfrigen Brunnenwände, an denen ich auf allen vieren ans Licht emporzukriechen versuchte? … Dort oben würde vielleicht Mimmo mit mir sprechen. Ich blieb in diesem toten Brunnen, bis ich Mimmos unverwechselbare Stimme hörte:
»Beruhigt Euch, Fürstin, es ist nichts Ernstes, keine Kinderlähmung. Wir mußten nur eine Sehne einschneiden. Carlo wird es Euch erklären.«
»Modesta, ich möchte dir meinen Kollegen und Freund Arturo Galgani aus Mailand vorstellen. Zum Glück war er hier!«
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Doktor.«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Fürstin.«
Die Scheinwerfer tasteten sich vorsichtig über das vom Regen blank polierte schwarze Lavapflaster. Carlo fuhr vorsichtig, ohne einen Ruck oder ein plötzliches Bremsen, um den Schlaf des kleinen Wesens nicht zu stören, das schwer auf meinem Schoß lastete. Ich konnte nicht in dieses Gesicht schauen, das innerhalb weniger Stunden spitz und weiß geworden war, als ob der Blick des Sensenmannes es gestreift hätte. Ich durfte ihn nicht anschauen. Der große blonde Mann hatte gelächelt und gesagt:
»Wenn man es früh genug behandelt, ist es nur ein kleiner Unfall, aber ich rate Euch, ihn nach Hause zu bringen. Er muß in seiner gewohnten Umgebung aufwachen, und wenn Ihr Euch bei seinem Erwachen weder nervös noch besorgt zeigt, wird er sich an nichts mehr erinnern. Es ist äußerst wichtig, daß er vergißt und die Übungen und Massagen als etwas vollkommen Normales hinnimmt.«
»Ist dir nicht gut, Modesta, oder warum schließt du die Augen?«
»Nein, Carlo, ich bin nur sehr müde.«
Um ihn zu beruhigen, öffnete ich die Augen, und das ruhige Gesicht des Freundes von einst lächelte mich einen Moment lang an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete.
»Wie heißt diese Muskelverkrampfung, Carlo?«
»Man nennt sie Pferdefuß. Denkst du immer noch daran? Das kann ernst werden, weil die Verkrampfung das Wachstum des Beines behindert, aber wenn man früh genug etwas dagegen unternimmt, ist es absolut ungefährlich.«
»Wie bei Beatrice?«
»Ja, genau.«
»Danke, Carlo. Wenn du nicht gewesen wärst!«
»Aber ich war da. Ich bin immer da. Das ist keine Anmaßung, glaub mir, sondern einfach eine Feststellung der Tatsachen, ich kann nichts dagegen tun. Immer wenn mich jemand braucht, ich weiß auch nicht, warum, bin ich da. Bequem für die anderen, aber nicht unbedingt für mich. Was will man machen! Das muß diese verdammte Berufung zum Arzt sein!«
Er scherzte. Und wenn Carlo scherzte, dann würde Eriprando sicher gesund.
»Berufung hin oder her, Carlo, ich bin dir dankbar und … verzeih mir.«
»Was denn?«
»Also ohne Groll, Carlo?«
»Ohne Groll und mit Liebe, würde ich sagen, Fürstin.«
48
»Kann ich hereinkommen? Was ist, Modesta, du bist ja noch im Morgenrock. Carlo wartet unten auf uns und …«
»Beatrice, ich bin in den vergangenen zwei Monaten nach deiner Krankheit wie versprochen jeden Abend mit euch zusammengewesen, in der Hoffnung, daß du diese törichte Klammerei – ein anderes Wort finde ich nach unseren Gesprächen dafür nicht – an alte Traditionen und Vorurteile endlich ablegst. Ab heute reicht es.«
»Aber …«
»Kein Aber! Ich komme nicht mit hinunter. Weißt du eigentlich, wieviel Zeit ich damit verloren habe, Eriprando von deiner Nervosität und Quecksilbers Sorge abzulenken? Jetzt, wo er bei Elena fröhlich ist, muß ich mich wieder an die Arbeit machen.«
»Diese Elena! Du hast mir und Quecksilber eine stumme, kalte Ausländerin vorgezogen, Modesta! Auch heute hast du mich nur ein paar Minuten zu ihm gelassen und uns wie ein Gendarm überwacht.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, daß du vorher sehr viel mehr Zeit mit ihm verbracht hast. Außerdem ist diese Elena sicher nicht zuletzt deshalb stumm und kalt, weil ihr sie nicht besonders gut behandelt habt.«
»Sie ist eine Fremde!«
»Sie tut ihre Arbeit. Sperr Augen und Ohren auf, Beatrice. Hörst du Eriprando lachen? Wie hätte dir das gelingen sollen, wo du bei seinem Anblick sofort in Tränen ausbrichst? Natürlich hat er dich an deine Krankheit erinnert, denn auch du hattest nichts weiter als eine Krankheit, Beatrice! Komm schon, sobald du selbst alles überwunden hast, darfst du ihn sehen, wann immer du willst. Aber solange du dieses zerknirschte Gesicht machst, brauchen wir von Eriprando
Weitere Kostenlose Bücher