Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
Vom Netzwerk:
zwanzig oder dreißig Jahre lang immer wieder anstehen würden. Der Gedanke an meine Zukunft, an die vielen Jahre, die vielleicht noch vor mir lagen, erfrischte mich wie ein leichter Aprilregen und nahm mir die Gereiztheit, die Carlos Stimme inzwischen in mir auslöste.
    Aber ich mußte Geduld haben mit diesem angespannten, enttäuschten Kindergesicht, das sich nicht damit abfinden wollte, sein Spielzeug von einer unbedachten Bewegung (meiner oder seiner?) oder einem Windstoß unwiederbringlich zerstört vor sich liegen zu sehen. Diese leidenschaftliche Intelligenz, die stets zum Nachdenken anregte, einem immer neue Erkenntnisse, Ideen und Wörter schenkte, wollte ich nicht verlieren. Und als auch ich die Enttäuschung über ein schönes, kaputtes Spielzeug überwunden hatte, verstand ich allmählich: Er liebtemich ebenfalls nicht mehr, wollte aber nicht zugeben, selbst der Grund dafür gewesen zu sein.
    »Es ist deine Schuld, du hast alles kaputtgemacht!«
    »Ja, Carlo, es ist meine Schuld.«
    Das Eingeständnis meiner Schuld vermochte ihn zu beruhigen. Er griff jetzt nicht mehr an, sondern betrachtete mich ruhig und erschöpft. Dann ließ er meine Knie los und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er wußte nicht, wo er hinschauen sollte, und drehte müde den Kopf nach rechts und links.
    »Du hast keine Ahnung von den Männern, die ich von klein auf kennengelernt habe, den Männer, die mich, sagen wir, geprägt haben: Von ihrer Einsamkeit, ihrer Unkenntnis der Frauen, über die sie aber, kaum daß sie sich zum ersten Mal zu einer Prostituierten gewagt hatten, alles zu wissen glaubten. Jetzt ist mir klar, ich hätte dir lieber gleich sagen sollen, daß ich vor dir nur diese armen Frauen kennengelernt hatte, die von der Gesellschaft dazu gezwungen werden, ihren Körper zu verkaufen. Du hättest mich verstanden, und wir hätten die jahrhundertealte Einsamkeit zwischen Mann und Frau überwunden.«
    Ich schaute ihn an, er lächelte jetzt, als er seine Rede beendet hatte. Er lächelte sein gelassenes, schüchternes Lächeln. Und vielleicht weil hinter den Möwen leichte Wolken unsicher herzogen, noch unbekannte, zu entdekkende Räume, Welten und Gesichter verheißend, oder weil uns eine abgemagerte, aber gesunde Beatrice entgegenlief, bald von der Sonne erhellt, deutlich und leibhaftig, bald wie durchsichtig im Licht dieser schüchternen Wolken des scheidenden Winters, sah ich Carlos Gesicht wieder so, wie ich es früher gesehen hatte.
    »Ich schätze dich sehr, Modesta, aber trotzdem will ich dir für dein eigenes Wohl und deine Zukunft etwas sagen.Ich bin vielleicht zu empfindlich, das stimmt, aber du bist zu dramatisch!«
    »Modesta! O mein Gott, Modesta, Carlo, um Himmels willen! Eriprando, Eriprando! Die Großmutter hatte recht mit dem Fluch! Schnell, er liegt auf dem Teppich und schreit. Das Füßchen, Modesta, er hat ein steifes Füßchen so wie ich. Schnell! Als Quecksilber ihn hochheben wollte, um ihm zu essen zu geben, hat er angefangen zu brüllen.«
    Ich konnte mich nicht bewegen, weil Beatrice mich verzweifelt umarmte und an meiner Schulter weinte. Da schrie ich aus nie gekanntem Zorn auf diese zarte, schmale Taille, die zwischen meinen Armen zitterte und mich zur Unbeweglichkeit zwang:
    »Sei still! Hör endlich auf mit diesem abergläubischen Gerede!«
    Ich mußte sie mit Gewalt zurückgestoßen haben. Während ich auf das Haus zulief, sah ich, wie Carlo ihr vom Boden aufhalf. Aber er verlor keine Zeit damit, sie zu trösten, denn als ich bei dem kleinen Wesen im Zimmer angelangt war, das sich auf dem Teppich krümmte, während mir Quecksilbers Weinen im Kopf dröhnte, fingen mich seine Arme gerade noch rechtzeitig auf.
    »Nur Mut, Modesta! Wir brauchen einen Chirurgen, lauf zum Auto und warte, oder wenn du nicht fahren willst, dann ruf Pietro.«
    »Nein, ich fahre selbst. Was hat er, Carlo, was hat er bloß?«
    »Los, fahren wir, Modesta! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen.«
    Ganz allein kämpfte Eriprando, in eine Decke gehüllt, in Carlos Armen gegen sein Leiden. Und ich durfteweder schreien noch weinen, noch fragen. Von seinen Klagen angetrieben, die jetzt nicht mehr schrill, sondern langgezogen wie ein mißtönendes Wiegenlied klangen, mußte ich fahren.
    Als ich vor der weißen, stummen Tür zurückblieb, mit nichts als dem unbeweglichen Gesicht einer Krankenschwester, die mich teilnahmslos anstarrte, dröhnte mir die Stille lauter im Kopf als

Weitere Kostenlose Bücher