Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
begonnen hatte. Aber als sie ihre kleine Handschrift sah – warum schrieb sie so klein? –, hörte sie auf und lauschte, den Kopf auf die Arme gelegt, der Stille, die von den Bäumen im Park in den Salon drang, die Treppe hinaufstieg und jetzt die stummen Handflächen an die Tür legte. Sie hatte Angst. Eine neue, unbekannte Angst. In der Ebene hatte sie sich vor dem Zorn der Mutter und Tuzzus Gleichgültigkeitgefürchtet. Im Kloster hatte sie gefürchtet, dort eingesperrt zu bleiben, und später, in diesem anderen Kloster aus Seide, hatte sie vor Gaia, Quecksilber und Beatrice selbst Angst gehabt. Das war es: Sie war nie allein in einem leeren Haus gewesen und hatte kommen und gehen können, wie es ihr paßte. Das war die Angst, die sie beinahe mit Sehnsucht nach Beatrice, ja sogar nach Quecksilber verwechselt hatte. Nein, ihnen trauerte sie nicht nach, sondern einer Art zu leben, die ihre Gefühle so lange geprägt hatte, daß sie sie nicht von einer Minute auf die andere ändern konnte. Sie mußte die Angst akzeptieren und sich langsam an diese Einsamkeit gewöhnen, die inzwischen das Wort Freiheit in sich barg, wie sie wußte. Um sich zu beweisen, daß diese Einsamkeit ein Schatz war, verglichen mit dem Laster der Gewohnheit, sprang sie aus dem Bett und machte alle Lampen im Zimmer an. Sie zog Rock und Bluse an und band sich einen Schal um. Dann tat sie, was sie früher nie hätte tun können, ohne Beatrice zu betrüben, nahm den Revolver und rannte los, Haus und Park weit hinter sich lassend, begleitet von Menelik, der glücklich voraussprang und alles anbellte: den Meeresschaum und die Palmen, vom Mondschein wiedererweckte Türme, Schlösser und Bisonhökker zwischen den Sanddünen, die kilometerweit die rege Phantasie der Nacht entfalteten.
Als er sich ausgetobt hatte, starrte Menelik ängstlich das Schweißtuch an, das der Mond über das Meer gebreitet hatte. Oder hatte ihn wie mich, von der Freude am Laufen erschöpft, die Sehnsucht nach dem Auftritt der Sonne auf der Bühne des Horizonts gepackt, die, mit Schild und Krummsäbel bewaffnet, das bleiche, mit seinen leeren Augenhöhlen Trauer und Wahnsinn nährende Antlitz des Mondes zerstören würde?
Durch Meneliks wütendes Gebell auf ein gedämpftes Donnern hinter mir aufmerksam geworden, drehte ich mich um. Angst hatte ich nicht. Menelik war ein zuverlässiger Hund, und mehr als einmal hatte ich ihn ohne Gnade zubeißen sehen. Schon warf er sich auf einen Schatten, duckte sich dann aber merkwürdigerweise zu dessen Füßen. Dieser Schatten war ein Pferd, und als ich den Blick hob, sah ich weiße Locken, vom Mond magnetisch angezogen, auf mich zukommen.
»Sehr gut, Menelik, du hast mich erkannt! Hunde haben ein gutes Gedächtnis, Menschen nicht. Hast du gesehen, wie mich die Padroncina anschaut? Was meint du, ob ich sie begrüßen soll?«
»Ich habe dich erkannt, Carmine. Was führt dich in diese Gegend?«
»Seit drei Nächten treibe ich mich hier herum!«
»Und warum?«
»Um dich zu sehen.«
»Konntest du nicht an die Tür klopfen?«
»Carmine klopft an keine Tür, sondern wartet auf einen Wink des Schicksals.«
»Warum wolltet du mich sehen?«
»Ich bin vom Tod gezeichnet, Figghia, hier in der Brust: das Herz. In der mir verbleibenden Zeit – drei, vier Monate – ist mir der Wunsch gekommen, dich wiederzusehen, natürlich nur, wenn du mich erkennst.«
»Ich erkenne dich, Carmine. Aber in mir habe ich dich umgebracht.«
»Ich weiß. Auch deshalb bin ich hier. Mein Tod gehört dir. Damals habe ich dir und mir Unrecht zufügen müssen, aber nichts vergeht, und Carmine hat dich immer im Herzen getragen. Nachdem ich dich nun gesehen und mit dir gesprochen habe, kehre ich zufrieden nach Hausezurück, auch weil deine Stimme freundlich war. Leb wohl, Padroncina, und Gott segne dich. Los, Orlando, mein Alter, es ist Zeit zu gehen.«
Der Mond war hinter dem Berg verschwunden, und ich konnte kaum erkennen, wie sich die weißen Locken und der breite Rücken auf den riesigen Schatten des Pferdes zu bewegte. Es war dunkel, aber schon lugte an einigen Stellen der Sonnenaufgang zwischen den niedrigen Büschen auf den Dünen hervor, und plötzlich zitterte ich vor Kälte und klapperte mit den Zähnen. Aus meiner Vergangenheit tauchten diese mächtigen Schultern und der gemessene Schritt riesenhaft vergrößert wieder empor. »Gezeichnet«, hatte er gesagt. Kein Hinweis darauf, weder in dem ruhigen Lächeln im Mondlicht noch in dem sicheren Schritt, der
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