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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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wahr, Carlo?«
    »Vollkommen gesund! Komm und sieh ihn dir an, und dann mußt du ihm eine Amme suchen, wenn du ihn behalten willst. Drei haben schon angefragt.«
    »Warum weint er?«
    »Aber Modesta, er hat Hunger! Du hast doch selbst einen Sohn, hast du alles vergessen? Komm, schau ihn dir an.«
    »Ich behalte ihn!«
    »Du hast ihn doch noch gar nicht gesehen.«
    »Was macht das schon? Es reicht mir, daß du ihn gesehen hast.«
    »Nein, da bleibe ich hart. Du mußt ihn dir selbst anschauen und dich vergewissern, daß er normal ist. Er wirkt kräftiger als Eriprando.«
    »Der ist auch nicht Ippolitos Sohn.«
    »Das hast du mir schon gesagt. Hör mal, Modesta, hast du immer noch vor dem Mongolismus des Vaters Angst?«
    »Meine Schwester war ebenfalls mongoloid.«
    »Wirklich?«
    »Aber das weiß keiner, selbst Beatrice nicht.«
    »Und das quält dich?«
    »Überhaupt nicht. Ich habe es dir bloß gesagt, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben weiß, daß ich mit jemandem über alles reden kann. Und ich bin glücklich darüber, dir eines meiner Geheimnisse anvertraut zu haben, das ich wie so viele andere tief in mir vergraben mußte. Unausgesprochene Dinge verfaulen in uns.«
    »Modesta, du rührst mich.«
    »Wie leise er weint … Eriprando hat wie ein Besessener geschrien.«
    »Aber wenn wir weiter reden, ohne ihm etwas zu essen zu geben, wirst du auch ihn bald schreien hören, komm und schau ihn dir an. Er ist ein Prachtexemplar, als wollte die Natur ihre vorherigen Verbrechen wiedergutmachen.«
    In dem Bettchen ruht anstelle dieses konturlosen Häufchens, das Eriprando einst war, ein fein gezeichnetes Gesichtchen mit nachdenklicher Stirn auf dem Kissen.
    »Pietro hat recht, seine Augen sind geöffnet! Eriprando hat dafür viele Wochen gebraucht.«
    »Ja, aber jetzt gibt es immer häufiger solcher Fälle.«
    »Ob er uns erkennt?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Er hat auch ein etwas vorstehendes Kinn … Er ähnelt …«
    »Wem, Modesta?«
    »Jacopo, Beatrices Onkel.«
    Bei diesem leise geflüsterten Namen starrten mich die hellen Augen an – eine leichte graue Wolke. Natürlich konnte er nichts sehen, aber in der Gewißheit, daß er mich wiedererkannt hatte, beugte ich mich über das Bettchen und streckte die Arme nach ihm aus.
    »Was machst du da?«
    »Ich will ihn sofort!«
    »Du bist ja närrisch! Erst wolltest du ihn nicht sehen, und jetzt …«
    »Jetzt habe ich ihn gesehen, mich verliebt und nehme ihn mit. Ich stehle ihn und nenne ihn Jacopo. Jacopo! Siehst du nicht, daß er mit dem Blick antwortet? Das ist sein Name.«
    »Ihr Frauen seid vielleicht verrückt! Schon verstanden, dann wickle ihn gut ein, und laß uns gehen. Ich bringe dich nach Hause, wo du ihm hoffentlich etwas zu essen gibst.«
    »Wegen der Amme brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Vor zwei Tagen hat Stella ebenfalls einen Sohn zur Welt gebracht, und ich bin sicher, daß sie Jacopo gefällt. Stella ist die schönste Bäuerin der ganzen Gegend.«

53
    Carlo fuhr langsam und achtete auf die Straße wie beim letzten Mal, um Vertiefungen, zu scharfen Kurven, einem plötzlich auftauchenden Hund oder Fahrradauszuweichen. Er beschleunigte vorsichtig, wenn er einen Wagen, einen beladenen Esel oder eine Schafherde, die die Luft in ein Meer aus Staub verwandelte, überholte. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet. Aber schon bald würden auf ein unsichtbares Zeichen hin die großen weißen Wolken über den glühenden Dünen mit ihren erfrischenden Tränen das Sommerende beweinen.
    Wie beim letzten Mal traf mich ab und zu sein Blick im Rückspiegel und half mir, dieses Leben in den Armen zu halten. Das erste Mal, seit ich auf der Welt war, konnte ich über ein schweres Holzstück reden, das ich hatte schleppen müssen, über eine Hütte in einem Meer aus Schlamm, über ein von meiner Hand gegen eine Tür geschleudertes Feuer …
    »Du hast mir Schwimmen beigebracht, Carlo, und Sprechen, bring mir auch deine Art zu denken bei. Männer wie du sind unsere Zukunft.«
    Sein sanfter Blick im Spiegel ist wie ein leichter Kuß auf meine Stirn, aber in seinen Augen erschien kurz eine neue Traurigkeit, wie eine Wolke oder der Regen der letzten Sommertage.
    »Macht dich der Gedanke traurig, daß ich nie so werden kann wie du, Carlo?«
    »Nein, Modesta, ich bin traurig, weil ich befürchte, daß wir Männer der Zukunft, wie du uns nennst, einige nicht wiedergutzumachende Fehler begangen haben. Ich höre dir zu und wage nicht mehr wie noch vor einem Jahr, von

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