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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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augenblicklich befiel, als mich Madre Leonora – starr wie eine Leiche – wegjagte, während sie weiter betete. Ein Angstfieber, glaube ich. Wie hatte ich nur so dumm sein können, ihr zu sagen, was ich dachte. Während ich zitterte und mit den Zähnen klapperte, versuchte ich zu begreifen, was mir geschehen war. Drei Tage und drei Nächte dauerte dieses schreckliche Fieber an, das mir mit einer einzigen Frage das Gehirn zermarterte: Warum hast du das getan? Ich hatte es getan, weil ich Dumme, die ich mich immer für so schlau hielt, Madre Leonora zu sehr vertraut hatte. Und deshalb hatte mich die Enttäuschung darüber, jeden Tag aufs neue ihre Feigheit zu entdecken und sie deshalb nicht länger lieben zu können, einen der dümmsten Fehler überhaupt begehen lassen. Nachdem ich das verstanden hatte, legte sich das Fieber. Nicht aber die Angst, von all diesen Frauen verstoßen zu werden, die ich brauchte, auch wenn sie einfältig und feige waren. Jahrelang waren sie mir so sanft, so schön und groß vorgekommen! Dabei waren sie nicht einmal groß. Mit meinen fünfzehn Jahren war ich bereits größer als Schwester Costanza, die zwar die häßlichste, aber auch die größte von allen war. Schade. Beinahe sehnte ich mich nach der Zeit zurück, als ich sie bewundert und versucht hatte, so zu gehen und zu sprechen wie sie. Paß auf, Modesta, auch dieser Wunsch, in eine Vergangenheit zurückzukehren, die es nicht mehr gibt, ist eine sentimentale Falle, die dich teuer zu stehen kommen kann. Nein! Schauen wir der Realität ins Auge: Was gewesen ist, ist gewesen und hat nur so und nicht anders sein können. Jetzt muß ich mich aus diesem Exil befreien, in das mich Madre Leonora gestürzt hat. Drei Tage lang habe ich nurdie Krankenschwester und den alten, kahlköpfigen Arzt zu Gesicht bekommen. Wenn der wenigstens jung gewesen wäre! Wer wußte, wo Tuzzu jetzt war? Vielleicht war er über das Meer fortgegangen.
    Das Meer … jetzt wußte ich, was das war. Ich hatte inzwischen so viele Reproduktionen von berühmten Gemälden kennengelernt, daß ich meinen früheren Wunsch, es mit eigenen Augen zu sehen, beinahe vergessen hatte.
    »Was ist das Meer, Tuzzu?«
    »Eine große Fläche, so weit das Auge reicht. So wie diese Steine, die du Tag und Nacht vor Augen hast. Nur daß sie statt aus Felsen und Schlamm – von dem Rest wollen wir gar nicht reden! – aus Wasser ist, blauem Wasser. Manchmal ist es so ruhig wie das Wasser im Brunnen und manchmal aufgewühlt wie das Schilfrohr, wenn der Fagoniu weht.«
    »Also ist es genau so wie auf den Bildern im Haus der Nonnen?«
    »Ach was, Dummerchen! Diese gemalten Pfützen an den Wänden sind unecht, falsch und verlogen. Die Natur läßt sich weder malen noch kaufen. Was kann man schon von diesen vertrockneten Mumien erwarten? Die haben doch, wie mein Vater und mein Großvater selig, die beide auch lesen und schreiben konnten, immer sagten, ihre eigene Natur und die Natur überhaupt verraten. Die sind doch unfruchtbar! Sie haben sich dafür entschieden, unfruchtbar wie der trügerische Treibsand zu sein. Nichts als gemaltes Zeug! Komm, gehen wir ein paar Schritte, komm …«
    Tuzzu nahm mich bei der Hand und führte mich auf eine unendlich weite Fläche von blauem, weichem Gras, das so wogte, daß ich meinte, vom Osterlikör getrunken zu haben.
    »Was für ein Dummerchen ist doch meine Picciridda! Erst aufdringlich wie eine Fliege, weil sie unbedingt das Meer sehen will, und wenn ich sie dorthin mitnehme, bemerkt sie es nicht einmal.«
    Das Gras öffnete sich unter meinen Füßen und zog mich hinab, und voller Schrecken klammerte ich mich an Tuzzus Arm … Wie hast du uns aus dem Feuer gerettet, Tuzzu?
    »Keine Angst! Siehst du nicht, daß ich dich halte? Solange ich dich festhalte, brauchst du weder Feuer noch Wasser zu fürchten.«
    Und wirklich, ich ging nicht unter. So liefen wir Hand in Hand über das blaue Meer von Tuzzus Blick. Seine Hand brannte und drückte fest die meine …
    Nein, das war nicht Tuzzu. Es war dieses kahlköpfige Männchen mit den Eidechsenaugen, das mein Handgelenk umklammerte und schrie. Dieses Männchen schrie immer. Vielleicht, weil es weder einen weißen noch einen schwarzen Rock trug?
    »Da, ein neuer Anfall! Und nicht genug damit, jetzt ist auch noch das Fieber gestiegen. Sie stirbt uns unter den Händen weg! Schwester Costanza, geht, geht sofort zu Madre Leonora und sagt ihr, welche Sünde auch immer das Mädchen begangen haben mag, es ist besser, wenn

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