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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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sie augenblicklich kommt, sonst stirbt uns die Kleine!«
    Da war er, der Ausweg. Dieses Männchen war gar nicht so häßlich, wie es auf den ersten Blick aussah. Und es schien auch klug zu sein. Ich mußte tun, was es sagte, anstatt still und brav dazuliegen wie in den vergangenen drei Tagen.
    Ich schloß die Augen, um zu Tuzzu und zu diesem Meer zurückzukehren, das mir Angst einjagte und mir den Atem nahm. Und mit aller Kraft, die die Sehnsuchtund die Angst mir verliehen, schrie ich laut, nur mit einem kleinen Unterschied: Statt Tuzzus Namen rief ich: »Madre, vergebt mir, Madre!« und dachte an Tuzzu, den ich so lange vergessen hatte: »Vergebt mir, Madre, vergebt mir!«

11
    Alle waren erschüttert, doch Madre Leonora ließ sich nicht blicken. Sie schickte mir Schwester Costanza, um mir aus deren zahnlosem und bösem Mund ausrichten zu lassen, daß sie mir zwar verziehen habe, aber darauf warte, daß auch Gott mir ein Zeichen seiner Vergebung sende, ehe sie in Betracht ziehe, mich wiederzusehen.
    Wie soll ich denn wissen, ob Gott mir vergibt?
    Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, fuhr Schwester Costanza fort:
    »Keine Sorge, sobald er dir dieses Zeichen sendet, wird Madre Leonora davon erfahren. Deine Bereitschaft zur Reue sehen wir wohl … Die Bereitschaft allein kann jedoch noch nicht als Reue gelten. In deinen Tränen hat zuviel Leidenschaft gelegen. Aber in Anbetracht deines Gesundheitszustandes und deines guten Willens folgen wir dem Rat von Doktor Milazzo und gestatten dir ab morgen, einige Stunden pro Tag das Zimmer zu verlassen. Achte jedoch darauf, daß du mit deinen Tränen und Seufzern nicht unsere Ruhe auf den Korridoren und im Garten störst. Du kannst dich glücklich schätzen, daß man dir soviel gewährt, vergiß das nicht! Und bete auch für den Herrn Doktor, der sich so sehr für dich eingesetzt hat.«
    Während ich darauf wartete, daß Gott mir ein Zeichen sandte, strich ich durch die Korridore, die Laubengängeund den Garten. Wie groß war mir dieser Garten damals erschienen, als ich ihn rennend durchquerte, um nur ja kein neues Wort, kein Adjektiv, keine Note zu versäumen. Jetzt aber war er wie in einem Traum zusammengeschrumpft, armselig und überfüllt. All diese Frauen wußten, was passiert war, aber selbst wenn ich sie streifte, taten sie in schweigender Übereinkunft so, als sähen sie mich nicht. Von ihren unbeweglichen Mienen verstoßen, fühlte ich mich, als sei ich durchsichtig: Nur meine Hände und meine Schultern wogen schwer und zogen meinen Kopf nach unten, in Richtung Erde. Ich hatte keinen Hunger mehr. Ich hatte nur noch Sehnsucht nach Madre Leonoras Lächeln, morgens in dem Raum mit den Bücherregalen, die ich, als ich klein war, für Anrichten gehalten hatte. Wie hatte Madre Leonora gelacht, als ich es ihr einmal erzählte!
    Kann einem die Sehnsucht so schwer auf den Schultern lasten, auch wenn man sich nicht mehr so liebhat wie zuvor? Da mir nichts anderes zu tun blieb, versuchte ich herauszufinden, was es mit dieser Sehnsucht auf sich hatte. Nicht bereuen mußte ich, sondern mich selbst und die anderen studieren, so wie man die Grammatik und die Musik studiert, und aufhören, mich meinen Gefühlen hinzugeben – was für ein schönes Wort, Gefühle! Aber inzwischen hatte ich keine Zeit mehr für Wörter, sondern mußte nur noch überlegen, was das für eine Sehnsucht war.
    Nach tagelangem Nachdenken verstand ich endlich. Es war nicht Madre Leonora, um die ich trauerte, sondern all die Privilegien und Aufmerksamkeiten, die diese Frauen mir einzig und allein aus Angst vor Madre Leonora zugestanden hatten. Denn sie war die Herrin hier. Meine Tränen und Seufzer waren nichts anderes als dieWut darüber, nicht länger der Liebling der Herrin über all diese Dienerinnen zu sein. Als ich das begriffen hatte, weinte ich nicht mehr. Denn wenn die Zuneigung einmal vergangen ist, kehrt sie nicht wieder zurück.
    So war es auch mit der Laienschwester Annina gewesen. Wie reizend war sie mir erschienen! Wir waren enge Freundinnen geworden, doch dann hatte auch sie sich als Feigling erwiesen. Nein, die Zuneigung kehrte nicht wieder, aber die Gunst schon, die Gunst konnte man zurükkerobern.
    Damit ihr das gelang, mußte sie ihre eigenen Handlungen und die der anderen weiterhin genau beobachten und nichts vergessen. Auch das Vergessen war ein Fehler gewesen. Madre Leonora hatte sie gedrängt, die Vergangenheit zu vergessen, so als ob diese nicht zurückkehren könnte. Und statt

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