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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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daß nur die Frau der Frau helfen kann, und du mich in deinem männlichen Stolz nicht verstanden hast? Verstehst du mich jetzt? Jetzt, wo du eine Tochter hast?
    Aus dem Spiegel – lange hatte ich mich darin nicht mehr angeschaut – blickt mir Carlos Gesicht entgegen. Oder vielleicht ist es die Angewohnheit, mit ihm zu sprechen, die seine Züge zu neuem Leben erweckt und mein Lächeln und meinen Blick an seinem formt? Die Macht der Sehnsucht, den geliebten Menschen am Leben zu erhalten. In mir ist er lebendig und wird im Spiegel lächelnd wiedergeboren … Ich verstehe dein Lächeln, Carlo, die Toten wollen nicht, daß man mit ihnen stirbt, sondern daß man sie am Leben erhält, in Gedanken, in der Stimme und den Gesten. Mit seinen Händen ziehe ich mir eine Haarsträhne in die Stirn … so sein wie er!
    Seit ich an jenem Morgen wegen der Wunde kahlgeschoren aufgewacht bin, trage ich das Haar kurz. Es wachsen lassen? In wenigen Jahren hätte ich wieder die Zöpfe, die mir als Kind so teuer waren. Nostalgie drängt mich, diese Zöpfe, die immer von den Scheren des Klosters bedroht waren, wiederzusehen. Cavallina hat siedamals in irgendeiner Schublade aufbewahrt … Da sind sie, lang, dicht und von einer so lebendigen Farbe, daß mir vor Angst, sie zu berühren, beinahe das Herz stillsteht. Aber kaum habe ich sie in der Hand, werfe ich sie aus Ekel vor diesem toten Teil von mir in den Papierkorb. Man kehrt nicht um. Und damals konnte ich kaum schwimmen! Ich erinnere mich an diese hinderlichen Zöpfe im Wasser und auf dem Kissen, an Klammern, Nadeln, Kämmchen und all die Mühe. Nein, mir ist mein neues Gesicht mit dem freien Hals, ein Jungengesicht wie Carlos, lieber. Ich will weiter ohne Bademütze schwimmen wie er. Und mir wie er, am Felsen des Propheten angelangt, höchstens mit einer schnellen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht streichen, bevor ich mich in die Sonne lege.

DRITTER TEIL

58
    Wer bereits den Gipfel der Dreißig überschritten hat, weiß, wie hart, beschwerlich und aufregend es ist, die steilen Hänge zu erklimmen, die von der Kindheit bis auf die Höhe der Jugend führen, und wie rasch man sie hinter sich läßt, ein Wasserfall, ein Vogelflug im Licht, wenige Augenblicke nur, und … Gestern noch hatte ich die vollen Wangen der Zwanzigjährigen, heute schon – war es nur eine Nacht? – hat mich die Zeit gestreift, kündet von der kurzen Spanne, die mir verbleibt, von dem letzten Ziel, das unerbittlich auf mich wartet. Der erste, trügerische Schrecken der Dreißig.
    Was hatte ich getan? Hatte ich meine Zeit vergeudet? Sonne und Meer nicht zur Genüge ausgekostet? Erst später, im goldenen Jahrzehnt der Fünfzig, diesem von Dichtern und Biographen so geschmähten Alter, erst da erkennt man, wieviel Reichtum und Kraft in den heiteren Stunden der Zurückgezogenheit liegen. Doch das kommt später.
    Damals packte mich jäh die Angst, das Gestern und das Morgen zu verlieren: Was tat ich hier in meinem Arbeitszimmer? Welchen Sinn hatten das Studium der Wörter und all diese Texte, Gedichte, Novellen, Notizen? Sollte ich etwa, ohne es zu bemerken, der mystischen Verdammnis anheimfallen, ein Dichter, ein Künstler zu werden? Hatte ich unwissentlich Beatrices Pfad eingeschlagen, die sich, um vor den Blicken der anderen und ihren eigenen bestehen zu können, in eine Heiligenstatue der untröstlichen Witwe verwandelt hatte, wunderschönund geachtet? War ich unbewußt im Begriff, mit der gleichen Gnadenlosigkeit und Willensstärke einen Tempel in mir zu errichten, und würde ich sterben wie sie, am subtilen Gift der Tradition?
    Eingesperrt in den Kerker der Trauer, den diese Tradition ihr diktierte, erkrankte Beatrice ganz allmählich und mit erschreckender Sanftmut »auf der Brust« wie ihr Mann, und wenige Monate später blieb diese wächserne Aufziehpuppe, die jahrelang zwischen Blumen und Büchern hin und her marschiert war, plötzlich stehen: die Feder zerbrochen. Was tat ich nur hier an meinem Schreibtisch vor den aufgereihten Stiften? Oder war es ein Altar? Begonnen hatte alles wie ein Spiel … Doch als ich in mich hineinsah, erblickte ich meine Zukunft: die Beine gebrochen und gefangen in der Falle, »jemand zu sein«. Nachdem ich dem Kloster entronnen war, kroch die Religiosität, die ich einst aus dem Fenster geworfen hatte, auf der Ratte der Ästhetik reitend wieder aus einer dunklen Ecke meines Zimmers hervor. Ich sah die mystische Ratte. In jedem Winkel glaubte ich plötzlich ihre roten Augen

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