Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Vertrauen und Glück mit sich fortriß, in ihrem eigenen Ende einen sicheren Ausweg gezeigt. Und wenn nun die Abenteuerlust der Jugend, dieser Hang zu tödlichen Spielen, ihr häufig vorzeitiger Tod nichts weiter waren als das Ergebnis einer Urenttäuschung, eines Urwiderspruchs? Sie hatte in jener Nacht in der Konfrontation mit Mattia den Tod gesucht, das wußte sie inzwischen. Und vielleicht kann nur der, der dem Tod nah gewesen ist, vergessen, um wiedergeboren zu werden, so wie Modesta Tag für Tag wiedergeborenwird und bei Sonnenaufgang im Spiegel die rote Narbe betrachtet, die wie eine kleine Schlange ihre Stirn teilt.
»Es wird drei oder vier Jahre dauern, bis das Rot verblaßt, Modesta.«
Was bedeuteten schon Jahre, wenn man zu verstehen begann? Diese Narbe, die ihre Stirn teilt, zeigt jetzt die Einheit ihrer vormals geteilten Existenz. Modesta gebiert sich aus sich selbst wieder und stößt dabei jene Frau ab, die vorher alles gewollt hatte und es nicht ertragen konnte, an sich und den anderen zu zweifeln. Sie wird in dem Bewußtsein wiedergeboren, allein zu sein. Und Tag für Tag, Stunde für Stunde nimmt sie den Schmerz an, den ihr Beatrices Rückkehr von ihrer langen Reise in den Wahnsinn bereitet.
Sie hat sich wieder gefangen, doch ihr Haar ist schlohweiß. Auf ihre Art ist Beatrice glücklich: ganz ihren Erinnerungen hingegeben, in Trauer gekleidet und mit dem Medaillon ihres geliebten Mannes an einem schwarzen Samtband um den Hals. Natürlich leidet Bambolina ein wenig in diesem Haus, in dem die Mutter und Quecksilber immer nur von der Vergangenheit erzählen. Aber eigentlich ist sie dort bloß zum Schlafen, denn morgens bringt Pietro sie in stiller Übereinkunft mit seiner Mody in die Villa Suvarita, und ihr trauriges Gesichtchen leuchtet auf, sobald sie Prando, Jacopo, ’Ntoni und ihre Freunde von den Feldern sieht.
»So viele Kinder!« ruft sie fröhlich und sagt dann immer noch: »Das muß ich meiner Mama sagen, sie muß herkommen und alle sehen …«
Sie spricht schon … Und doch kam ihr diese in kalkweißes Mondlicht getauchte Nacht wie gestern vor … Die Wunde pocht in Erinnerung an Mattia. Auch erwollte sterben, hat sich aber dann entschieden, nach Amerika zu gehen, jedenfalls hat das Pietro berichtet. Und Jose? Jose ist zusammen mit Pertini bei Kämpfen in Norditalien verhaftet worden.
»Diese Lawine von Verhaftungen, Mody! Aber was die Seele am meisten bedrückt, was sie in tiefste Finsternis stürzt, ist, daß man aus der Zeitung nichts mehr erfährt, dieses absolute Schweigen. Man sucht nach Nachrichten wie ein Hund nach einem abgenagten Knochen oder ein Hungriger nach einem Stück trocken Brot.«
»Ja, Antonio, Verhaftungen und Gleichgültigkeit.«
Eine einsame Stimme der Rebellion nach der anderen fällt lautlos in den See aus Gleichgültigkeit, der sich bei jedem Schritt der Geschichte langsam, aber zäh in jede Straße und jede Ecke ausbreitet: Matteotti-Affäre, Sondergesetze, Lateranverträge …
»Geschichte ist Männersache, Fürstin, sie schaffen und zerstören sie, wie es ihnen paßt.«
»Natürlich, Stella.«
Ich schaue sie an, aber diese Milde und Ergebenheit, die ich früher für Weisheit hielt, hat für mich keinen Zauber mehr … Früher … als Bambolina noch nicht bei uns war. Aber jetzt, wo Bambolina hinter Prando herzulaufen beginnt, warum verbieten sie ihr das und trennen sie? Ich muß mich von meinen Büchern losreißen und hinuntergehen. Da weint sie verzweifelt auf der Wiese, während Prando glücklich unten im Wald verschwindet.
»Was ist denn, Stella, Elena, warum trennt ihr sie?«
»Sie rennt wie ein Junge, Fürstin! So macht sie sich noch das Kleidchen schmutzig.«
Damit fängt also die Trennung an. Wenn es nach ihnen ginge, müßte sich Bambolina schon mit fünf Jahren anders bewegen und mit gesenktem Blick artig sitzen, umin sich das Fräulein von morgen heranzuzüchten. Wie im Kloster: Gesetze, Gefängnisse und Geschichte von Männerhand errichtet. Aber die Frau selbst hat eingewilligt, die Schlüssel zu bewahren, als unbeugsame Hüterin des männlichen Wortes. Im Kloster hatte Modesta ihre Gefängniswärterinnen mit dem Haß einer Sklavin gehaßt, ein demütigender, aber notwendiger Haß. Heute verteidigt sie Bambolina souverän gegen Männer und Frauen, nur um sie geht es ihr, und in ihr verteidigt sie sich selbst, ihre Vergangenheit, eine Tochter, die ihr irgendwann geboren werden könnte … Erinnerst du dich, Carlo, wie ich dir gesagt habe,
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